DER STANDARD Donnerstag, 17. Juni 1999

DAS AKTUELLE BUCH
Das Land in Nahost, das es nicht geben darf

Namo Aziz Kurdistan und die Probleme um Öcalan öS 181,-/200 Seiten
Edition Gallas, München 1999
Das Buch besteht grob aus zwei Teilen: der Darstellung der kurdischen Geschichte und Situation aus der Feder des kurdischen Autors und Journalisten Namo Aziz und einem viel kürzeren, für die Beschäftigung mit der Kurdenfrage umso relevanteren Beitrag von Abdullah Öcalan, verfaßt in Rom im Jänner 1999, also mit den letzten Entwicklungen vor der Flucht und der Verhaftung des PKK-Chefs, der jetzt in der Türkei vor Gericht steht.

Wobei die persönliche Jugendgeschichte Öcalans, von ihm selbst erzählt, vielleicht am meisten berührt: Es ist das Porträt eines "zornigen Kindes", wie er sich selbst bezeichnet, das mit den Eltern, besonders dem schwachen Vater, hadert. Nicht das Kurdentum steht im Zentrum seines jungen Lebens, sondern der Protest gegen die Gesellschaft an sich. Wasser auf den Mühlen jener, die in Öcalan zu allererst den Klassenkämpfer sehen.

Namo Aziz' flüssig geschriebener Hauptteil ist Leidensgeschichte und Anklage zugleich, gegen die Türkei, gegen Europa, das den Kurden das "versprochene Land" schuldig geblieben ist, gegen die Medien, die nie "über die Ursachen der Demonstrationen" der Kurden (zur Zeit von Öcalans Verhaftung) berichteten - was schlicht unwahr ist. Obwohl oder gerade weil auch die von Aziz erzählten unbestreitbaren Wahrheiten einen propagandistischen Anflug haben - etwa, daß das erste Wort, das der Autor als Baby sagte, "Kurdistan" war -, sind sie lesenswert. Manches für die Kurden Unangenehme liest sich sehr lapidar, so zum Beispiel die jetzige Situation der Kurden im Nordirak, deren Führer mit dem Teufel (Saddam Hussein) paktieren, wenn sie nur genügend daran verdienen. Enttäuschend auch, daß auch ein Intellektueller wie Namo Aziz sich dem großen Sündenfall der Kurden, der Beteiligung am armenischen Genozid, nicht angemessen zu stellen vermag. Gudrun Harrer