Ecevit steckt in der Zwickmühle zwischen Prozeß und Prestige
Das Volk will Öcalans Tod, Ankara die Nähe zu Europa
Von Dietrich Alexander
Berlin Die Türken wollen ihren „Jahrhundertprozeß" und sie sollen ihn bekommen. Die Mehrheit der 63 Millionen Einwohner des Landes haßt Abdullah Öcalan, den Führer der separatistischen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Fast jede Familie hat in diesem 15 Jahre währenden Bürgerkrieg, der so nie genannt wurde, Opfer zu beklagen. 30 000 Menschen starben, unzählige kehrten als Krüppel von der Front zurück.
Öcalan ist der allein Schuldige, da ist sich die Öffentlichkeit von den Medien dirigiert einig. Die Todesstrafe und nichts anderes erwartet die türkische Bevölkerung. Menschenrechte hin oder her: Für „Babymörder", so die Volksmeinung, gelten sie nicht.
Die frischgebackene Regierungskoalition von Premier Bülent Ecevit mag dies genauso sehen, ringt aber noch um mehr Rechtsstaatlichkeit in diesem Prozeß. So ist nicht auszuschließen, daß die neue Regierung die sogenannten Staatssicherheitsgerichte reformieren wird. In diesen Gerichten werden Delikte gegen den Staat verhandelt, also Fahnenflucht, Hochverrat, Spionage oder Terrorismus. Sie wurden nach dem Militärputsch von 1980 eingerichtet, sind aber umstritten, weil einer der drei Richter vom allmächtigen Militär berufen wird. Dieser Umstand rief schon vor mehr als einem Jahr den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf den Plan, der diese Gerichtsform als unvereinbar mit den Rechtsvorstellungen der europäischen Staaten gebrandmarkt hatte.
Ecevits komfortable Regierungskoalition seiner Demokratischen Linkspartei (DSP), der nationalistischen Nationalen Bewegung (MHP) und der Mutterlandspartei von Ex-Premier Mesut Yilmaz (351 von 550 Parlamentssitzen) dürfte keine Probleme haben, eine dafür nötige Verfassungsänderung durchzubringen.
Auch wenn sich die MHP die Vollstreckung eines Todesurteils gegen Öcalan schon im Wahlkampf auf die Fahnen geschrieben hatte, wird sie sich wohl der Koalitionsdisziplin beugen. An einem Schuldspruch für Öcalan mit dem dann unausweichlichen Todesurteil aber würde auch dies wohl nichts ändern.
Die Todesstrafe indes ist seit 1984 in der Türkei nicht mehr vollstreckt worden. Zudem müssen Staatspräsident Süleyman Demirel, Gegner der Todesstrafe, wie auch das Parlament einer Vollstreckung erst zustimmen. Wenn auch das türkische Volk den Tod Öcalans fordert und ihm die Beziehungen zwischen der Türkei und Europa in seinem Haß vollkommen egal sind, will Ecevit dieser Gerichtsverhandlung offenbar den Nimbus eines Schauprozesses nehmen. Denn die Türkei wird auch daran gemessen, wie sie mit ihren Feinden umgeht.
Mit einer Umwandlung der Todesstrafe in lebenslange Haft etwa bewiese
Ankara rechtsstaatliche Größe. Es ergäbe sich daraus auch
die Chance, die „Kurdenfrage" zu lösen und nicht durch den Tod Öcalans
die Gräben zwischen Türken und Kurden noch weiter aufzureißen.
Und: Europäer und Türken kämen sicherlich wieder leichter
ins Gespräch.