Quo vadis, Türkei?
Gastkommentar von Klaus Kinkel
Der Beginn des Strafverfahrens gegen Abdullah Öcalan läßt die Frage „Quo vadis Türkei?" wieder stärker in den Vordergrund treten. Nicht nur in der Europäischen Union und besonders in Deutschland wird sehr genau beobachtet werden, ob Öcalan einen fairen, den europäischen rechtsstaatlichen Normen entsprechenden Prozeß vor einem unabhängigen Gericht erhält und internationale Beobachter zum Prozeß zugelassen werden. Die türkische Regierung hat dies alles wiederholt zugesichert. Wenn es zur Todesstrafe kommen sollte, muß heute schon an die Türkei appelliert werden, diese auf gar keinen Fall zu vollstrecken. Öcalan würde als Märtyrer für die kurdische Sache in die Geschichte eingehen. Die Spirale der Gewalt würde nicht durchbrochen, sondern vielleicht beschleunigt. Nicht vergessen werden sollte in diesem Zusammenhang allerdings, daß die Bundesrepublik Deutschland trotz vorliegenden Haftbefehls keine Auslieferung von Öcalan beantragt hat.
Die islamische, laizistisch regierte Türkei mit ihren 62 Millionen Menschen, seit 1963 durch ein Assoziierungsabkommen, seit 1. Januar 1996 durch die Zollunion mit der Europäischen Union verbunden, hat nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eine geographische Schlüsselstellung im Dreieck Europa Mittlerer Osten Kaukasus und eine noch größere strategische Bedeutung als Brücke zur islamischen Welt. Sie ist wichtiger Nato-Partner an der Südostflanke und Anrainer wichtiger und krisenanfälliger Regionen. Darum ist es auch so wichtig, daß die Türkei auf Europa-Kurs bleibt. Die Türkei ist unser Freund, ein Teil des Westens, ein Teil Europas. Sie ist überzeugendes Beispiel dafür, daß Islam und säkularer Staat miteinander vereinbar sind. Die Türkei ist auf dem Weg zu einem der einflußreichsten regionalen Spieler im östlichen Mittelmeer. Ein gutes Verhältnis zu den islamischen Ländern ist für die Zukunft Europas ganz entscheidend.
Ganz wichtig ist eine Entkrampfung des türkisch-griechischen Verhältnisses und der Zypern-Frage: Eine tragfähige Lösung gibt es nur mit- und nicht gegeneinander. Bei der Verleihung des Atatürk-Friedenspreises 1987 sagte der Preisträger, der damalige Bundespräsident von Weizsäcker: „Für Europa, besonders für uns Deutsche, die wir uns sowohl mit Türken als auch mit Griechen in bewährter Freundschaft verbunden wissen, ist es ein Herzenswunsch, daß es beiden Ländern gelingen möge, wieder zu einem gutnachbarlichen Verhältnis der Verständigung und des Vertrauens zu finden." An diesem Wunsch hat sich nichts geändert. Griechenland muß allerdings auch seinen Beitrag zu alledem leisten.
Gerade wir Deutschen haben zur Türkei traditionell ein besonders freundschaftliches Verhältnis. Mehr als zwei Millionen Türken leben in Deutschland, etwa die gleiche Zahl deutscher Touristen besuchen die Türkei jährlich. Eine große Zahl der türkischen Mitbewohner gehört heute zur wirtschaftlichen und intellektuellen Elite unseres Landes. Über 150 000 türkische Unternehmen sind in Deutschland ansässig. 50 Prozent ihrer Beschäftigten sind Deutsche. Türkische Geschäftsleute haben Milliardenbeträge in Deutschland investiert; 16 000 junge Türken studieren an unseren Hochschulen und türkische Musik erobert neuerdings unsere Hitparaden. Deutschland ist der wichtigste Wirtschaftspartner der Türkei.
Es bleibt dabei, daß die Tür zur Europäischen Union für die Türkei offensteht. Die Voraussetzungen dafür müssen von der türkischen Seite geschaffen werden. Die EU ist kein Klub christlicher Staaten. Wir wollen die Türkei auf dem Weg zu einem größeren Europa dabeihaben. Wir beurteilen die Türkei nicht nach ihrer Religion, sondern nach denselben Kriterien wie die anderen Kandidaten. Aber die Kriterien nehmen wir ernst: Der Weg zur Mitgliedschaft verlangt auch Opfer. Wir haben in der Europäischen Union eine spezielle Strategie für die Türkei erarbeitet, die helfen soll, sie auf die Mitgliedschaft vorzubereiten. Ich hoffe sehr, daß die Türkei sich nicht selbst vom europäischen Zug abkoppelt.
Die Türkei ist enttäuscht, daß sie nicht gleichberechtigter Beitrittspartner ist und immer wieder auf die Defizite bei den Menschenrechten, den Kurdenkonflikt, die wirtschaftlichen Probleme und auf das Verhältnis zu Griechenland verwiesen wird. Das alles hat das türkische Interesse an Europa etwas erkalten lassen. Der politische Dialog mit der Europäischen Union zu den Themen Menschenrechte, Kurdenfrage und Ägäis ist seit dem Europäischen Rat in Luxemburg einseitig durch die Türkei suspendiert.
Dieser Zustand muß überwunden werden. Die Bildung der neuen
Regierung in Ankara ist eine sehr gute Möglichkeit, die Fäden
neu zu knüpfen. Ich fordere beide Regierungen in Bonn und Ankara auf,
in einem neuen Anlauf aufeinander zuzugehen. Europa braucht die Türkei
die Türkei braucht Europa.