Kurdische Opfer ohne Stimme
Gründe für den Kurdenkonflikt im Prozeß gegen den
PKK-Chef ausgeklammert
STANDARD-Korrespondentin Astrid Frefel aus Istanbul
Dieser Prozeß sollte Jahre dauern, damit alles aufgerollt werden könnte, meinte Öcalan-Anwalt Niyazi Bulgan am Sonntag bei einer Pressekonferenz in Istanbul. Die Richter scheinen das anders zu sehen. Sie haben den Antrag der Verteidigung, Zeugen zu hören, abgelehnt. Am Dienstag gehen die Verhandlungen deshalb mit der abschließenden Beweisführung des Staatsanwaltes weiter.
Dieser fordert für Öcalan die Todesstrafe wegen Verrat und Separatismus. Die Verteidiger des Angeklagten haben dann das Recht, für die Vorbereitung ihres Plädoyers einen Prozeßaufschub von längstens 15 Tagen zu verlangen. Danach könnte das Urteil in wenigen Tagen gesprochen werden.
Öcalans Anwaltteam hat in den ersten fünf Verhandlungstagen versucht, die politische Dimension des Kurdenkonfliktes zur Sprache zu bringen. Die Anklagepunkte "Verrat" und "Separatismus" sind auch politische Vergehen. Sie sehen den Prozeß als einen Anfang, um auf demokratischem Weg eine friedliche Lösung des Konfliktes einzuleiten. Sie haben deshalb auch den Antrag gestellt, die anderen Opfer zu hören. Bisher entstand der Eindruck, es gebe nur auf der Seite der Soldaten und Sicherheitskräfte Opfer. Diesen 5000 Toten stehen aber mindestens 20.000 Tote auf kurdischer Seite gegenüber. "Wie können wir in Zukunft friedlich zusammenleben, wenn wir die Leiden der einen ernst nehmen und die Leiden der andern ausblenden?" fragen Öcalans Verteidiger.
Die Aussagen ihres Mandanten, der zu einer Friedensinitiative aufgerufen hatte, wurde von der türkischen Öffentlichkeit als ein Beispiel von Verantwortungslosigkeit und Schwäche gewertet. Die Reaktionen waren voll von verletzenden und hämischen Bemerkungen. Auf ihren Inhalt ging man erst gar nicht ein. Der Richter stellte dem PKK-Chef zwar die Frage, ob er seinen Kämpfern überhaupt befehlen könne, ihre Waffen niederzulegen. Als die Anwälte eine Antwort der Organisation vorlesen wollten, wurden sie im Gerichtssaal daran gehindert.
"Quoten-"Krieg"
Die Anwälte der Familien der toten Soldaten haben ebenfalls die Todesstrafe gefordert. Für sie gibt es keinen anderen Aspekt als die Leiden der Angehörigen der getöteten Soldaten. Eine politische Motivation im Kurdenkonflikt lassen sie nicht gelten. Über 2000 Angehörige von Opfern wollen vor Gericht aussagen. Der Gerichtspräsident hat sie um Verständnis gebeten, daß dies nicht möglich sein werde. Unter den türkischen Fernsehanstalten ist ein richtiger Quoten-Krieg um die emotionalsten dieser Schilderungen entstanden.
Öcalans Anwälte haben deshalb an die Medien appelliert, objektiv zu berichten und nicht weiterhin Haß und Zwietracht zu schüren. Diese Wut bekommen die Anwälte immer wieder persönlich zu spüren, sei es daß sie aus dem Hotel geworfen werden, sei es durch Morddrohungen.
Die meiste Zeit der Befragung nahmen bisher nicht etwa blutige Attentate von PKK-Militanten in Anspruch, sondern die Beziehungen der PKK zu anderen Staaten. Hier hakte der Richter immer wieder ein. Öcalan gab oft ausweichende Antworten und erzählte nichts, was nicht schon bekannt gewesen wäre. Gestützt auf diese Informationen will die türkische Führung Druck auf diese Länder ausüben, damit sie ihre "Unterstützung für die Terrororganisation" aufgeben.
Ankara hofft dadurch, der PKK einerseits weiteren Boden zu entziehen,
andererseits gelten diese Verbindungen als Beweis für die Theorie,
daß ausländische Mächte mit der Schaffung eines Kurdenproblems
versuchen, die Türkei zu schwächen.