Der Prozeß gegen den kurdischen Rebellenführer Abdullah
Öcalan
Ankaras schwieriger Balanceakt
FRANK HERRMANN
Ankara - Der Prozeß gegen den kurdischen Rebellenführer
Abdullah Öcalan steht auf des Messers Schneide. Die Anklage verlangte
gestern die Todesstrafe für den PKK-Vorsitzenden, dessen Partei, die
für einen unabhängigen Kurdenstaat kämpft, drohte mit Vergeltung.
Die Staatsanwaltschaft setzte sich mit ihrer Forderung über die Warnungen
der Anhänger Öcalans aber auch internationale Appelle gegen die
Verhängung der Todesstrafe hinweg. Öcalan habe versucht, die
Einheit der Türkei mit Waffengewalt zu zerstören, erklärte
Staatsanwalt Cevdet Volkan in seinem Schlußplädoyer. Außerdem
sei er für den Tod von 29 000 Menschen verantwortlich und seine Friedensangebote
seien unaufrichtig. Die Anwälte des Guerrillachefs haben nun 15 Tage
Zeit, um die Verteidigungsrede vorzubereiten. So lange wird das Verfahren
unterbrochen. Die zwischenzeitlich aufgeflackerten Signale für einen
Kompromiß sind kaum noch erkennbar. Seit der Prozeß auf der
Insel Imrali am 31. Mai begann, hatten wilde Gerüchte die Runde gemacht.
Öcalan habe sich unterderhand mit dem Militär verständigt,
glaubten Beobachter. Er wolle seine Anhänger aus den Bergen holen,
dafür garantierten ihm die Generale seinen Kopf. Doch gut eine Woche
später waren die Fronten wieder klar. Die Armeespitze dementierte
jegliche Kontakte mit der PKK und wiederholte ihre frühere Position:
Mit Terroristen könne man nicht verhandeln. Auch die Guerrilla schlug
harte Töne an. Der türkische Staat würde "Selbstmord" begehen,
wenn er Öcalan hinrichte, ließ die PKK in einer Erklärung
gestern wissen. Dann wäre jede Art des Kampfes legitim. Daß
Emissäre des Generalstabs spätestens seit 1998 mit den Rebellen
redeten, daß lokale Kommandeure schon lange eine Art ständigen
Draht zu ihren Gegnern haben, ist zwar ein offenes Geheimnis. Aber aus
Sicht der Offiziere wäre das Eingeständnis von Kontakten jetzt
die falsche Botschaft. Der Druck der öffentlichen Meinung ist enorm.
Kriegsveteranen und Soldatenmütter bilden eine einflußreiche,
emotionsgeladene Lobby. Auch die Presse hat sich auf die Kopf-ab-Parolen
eingeschossen. Als der Angeklagte eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts
vorschlug, erntete er bei den meisten Kommentatoren Hohn und Spott. "Jusuf,
Jusuf, Öcalan", schrieb das Massenblatt "Sabah" - so hänselt
man einen Angsthasen auf türkisch. Heftig wird allerdings darüber
debattiert, ob der Prozeß das schwierige Verhältnis zu Europa
noch mehr belastet. "Die Europäer schauen uns sehr genau zu", meint
Mehmet Ali Birand, einer der bekanntesten "Eckenschreiber", einer der Starkolumnisten
des Landes. Zwischen Bonn und Paris, London und Rom warte man auf den Ausgang
des Verfahrens, erst dann werde man die Weichen stellen. Ankara steht ein
schwieriger Balanceakt zwischen Racheschwüren und Europa-Interessen
bevor. Trotz des Öcalan-Prozesses sah es außenpolitisch zuletzt
nach Entspannung aus. Nach Birands Worten glaubt die Türkei, daß
ihr die EU nach dem Luxemburger "Nein" von 1997 wieder die Tür zum
Beitritt öffnen will. Der neue Premier Bülent Ecevit, so der
Kommentator, sei in der Praxis viel weniger europafeindlich als befürchtet.
Ecevit schrieb dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder kürzlich
einen Brief, in dem er sich zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtete.
Doch das Tauwetter könnte von kurzer Dauer sein. Allein das Todesurteil
gegen Öcalan dürfte kaum zu neuen Spannungen führen. Sollte
es aber vollstreckt werden, ist ein Kälteschock zu befürchten.