Türkei - Menschenrechtsverletzer Nr. 1
Die meisten Beschwerden an den Strasbourger Gerichtshof kommen aus
Kleinasien
Gegen die Türkei liegen derzeit beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Strasbourg 3 000 Beschwerden vor, womit das Land am Bosporus die Liste jener Länder, gegen die Klagen wegen Menschenrechtsverletzungen vorliegen, mit Abstand anführt. Erst vor zwei Wochen hatte das Ministerkomitee des Europarates die Türkei in ungewöhnlich scharfer Form gerügt, weil das Land wiederholt wegen Folter und schwerer Mißhandlung vom Menschenrechtsgerichtshof verurteilt wurde. Obwohl als notorischer Menschenrechtsverletzer berüchtigt, nimmt die Türkei an der »menschenrechtsverteidigenden« NATO-Mission im Kosovo teil. Im deutschen Sektor, der auch von Angehörigen der türkischen Minderheit bewohnt ist, sind ungefähr 4 000 türkische Soldaten stationiert.
Generell ist der Europäische Menschenrechtsgerichtshof mit einer immer stärker anwachsenden Flut von Klagen konfrontiert. Wie der Präsident des Gerichtshofs, Luzius Wildhaber, am Montag mitteilte, haben sich seit Anfang des Jahres bereits über zehntausend Menschen mit Beschwerden an die Strasbourger Richter gewandt. Pro Tag gingen rund 700 Briefe von Bürgern ein, die sich als Opfer einer Grundrechtsverletzung betrachten. »Dies stellt gegenüber den ersten sechs Monaten 1998 einen Anstieg von 25 Prozent dar«, betonte der Schweizer Richter vor Journalisten. Zugleich bemängelte er die unzureichende personelle und finanzielle Ausstattung des Gerichtshofs. Die 41 Mitgliedsländer des Europarats müßten sich ihrer »Verantwortung stellen« und für eine ausreichende Ausstattung des Gerichtshofs sorgen, forderte Wildhaber.
Derzeit beschäftigt der Gerichtshof für Menschenrechte den Angaben zufolge rund 220 Mitarbeiter, darunter 80 Juristen. Er verfügt über einen Jahresetat von umgerechnet etwa 46 Millionen Mark. Dies sei »in etwa ein Viertel« des Haushalts des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) der Europäischen Union, betonte Wildhaber.
Der Strasbourger Gerichtshof, an den jedes Europaratsland einen Richter entsendet, war im vergangenen November reformiert worden. Seither tagen die Richter permanent in Strasbourg und nicht nur - wie vor der Reform - zehn Tage pro Monat. Von dieser Reform hatten sich die Europaratsländer eine Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren erhofft, die im Schnitt über fünf Jahre dauern. Davon könne aber bisher angesichts der Arbeitsüberlastung keine Rede sein, erklärte Wildhaber.
Gegen Deutschland liegen derzeit 460 registrierte Beschwerden vor, gegen Österreich 411 und gegen die Schweiz 167. Von den eingehenden Beschwerden wird allerdings nur ein kleiner Teil für zulässig erklärt und vom Gerichtshof eingehend geprüft. Voraussetzung dafür ist unter anderem, daß die Kläger alle nationalen Rechtsmittel ausgeschöpft haben.
Der Strasbourger Gerichtshof hat die Aufgabe, die Einhaltung der Europäischen
Menschenrechtskonvention aus dem Jahr 1953 zu überwachen. Er hat seit
seiner Einrichtung im Jahre 1959 mehr als tausend Urteile gefällt.