In Ketten vor die Richterin Verfahren gegen 73 Kurden liefen in Leipzig an
Wasserwerfer und ein großes Polizeiaufgebot erwarteten am Dienstag die Besucher des Verfahrens gegen Hatice A., Dogan B., Ibrahim K., Sevki K. und Mehmed T. vor dem Leipziger Amtsgericht in den sogenannten »sächsischen Kurdenprozessen«. Aus Protest gegen die Verschleppung Abdullah Öcalans mit Unterstützung Griechenlands hatten sich die fünf Kurden an der Besetzung des griechischen Generalkonsulates am 16. Februar 1999 in Leipzig beteiligt. Ein Sondereinsatzkommando der Polizei hatte das Gebäude am späten Nachmittag desselben Tages gestürmt. Gegen 61 der verhafteten Kurden und Kurdinnen laufen nun Ermittlungsverfahren vor dem Leipziger Amtsgericht wegen gemeinschaftlicher Freiheitsberaubung, schwerem Landfriedensbruch und schwerem Hausfriedensbruch. Gegen zwölf weitere Kurden, die als »Rädelsführer« ausgemacht wurden, wird zusätzlich wegen angeblicher Geiselnahme ermittelt. Diese Prozesse werden vor dem Landgericht geführt und sollen im Herbst beginnen. Die insgesamt 73 Angeklagten befinden sich seit ihrer Festnahme ununterbrochen in verschiedenen Gefängnissen in U- Haft.
Aus Angst vor einem politischen Großverfahren hat die Leipziger Staatsanwaltschaft die Angeklagten in Gruppen zu je fünf Personen aufgeteilt. Zusätzlich zur Strafverfolgung erließen die Ordnungsämter der Wohnorte gegen einige Kurden politische Betätigungsverbote, die soweit gehen, schon das Verfassen politischer Reden zu verbieten.
Gegen die Angeklagte Hatice A. sollte gestern ursprünglich gesondert verhandelt werden, da sie durch ihre Aussagen andere Kurden schwer belastet hat und als Zeugin in den anderen Anklagen aufgeführt wird. Überraschenderweise betrat sie gestern nicht wie erwartet alleine den Prozeßsaal, sondern - in Ketten gelegt - zusammen mit vier weiteren Kurden. Ihre Aussagen gegenüber Richterin Pisecky in der gestrigen Verhandlung widersprachen den angeblich vorher gemachten Aussagen im Polizeiverhör. Hatice A. sagte, sie sei während des Verhörs unter Druck gesetzt worden. Ihre Aussage hätte man ihr nur in deutscher Sprache zur Unterschrift vorgelegt. Verteidiger Ahus stellte zu recht die Frage, ob die beiden Dolmetscher, die beim Verhör der Kurdin anwesend waren, möglicherweise sogar loyale türkische Botschaftsangehörige gewesen seien.
Auch die anderen vier Kurden machten Aussagen zur Besetzung des Konsulats. Für Staatsanwalt Baums kam dabei sicherlich nicht viel Neues heraus. Die Richterin interessierte sich vor allem dafür, ob die drei Deutschen, die sich im Gebäude befanden, als »Geiseln oder Gäste« behandelt wurden, und ob es während der Besetzung eine Befehlsstruktur gegeben hat. Sie schien immer etwas genervt, wenn offensichtlich wegen Übersetzungsschwierigkeiten nicht direkt auf ihre Frage geantwortet wurde. Die Kurden und ihre Anwälte thematisierten im Prozeß leider nicht die politischen Hintergründe der Besetzung.
Wie hoch die Strafen ausfallen werden, hängt auch in diesem Verfahren davon ab, ob jemand als Zeuge gegen andere Kurden und Kurdinnen aussagt oder nicht. Im ersten Fall ist sicherlich mit Bewährungsstrafe zu rechnen. Innenminister Schily hat auf der Innenministerkonferenz am 5. März 1999 schon klargestellt, daß Kurden, die sich »zu Gewaltaktionen hinreißen lassen«, kein Recht auf Aufenthalt hätten. Begleitet wird das Verfahren vom Rechtshilfeverein »Azadi«.
Helge Sichting, Leipzig