Stuttgarter Zeitung, 26.6.99
Junger Kurde aus lauter Angst abgetaucht
Ein 19 Jahre alter kurdischer Schüler soll von seiner Familie getrennt
und in die Türkei abgeschoben werden. Der Fall wird sicherlich juristisch
korrekt behandelt. Doch die Menschlichkeit scheint auf der Strecke zu bleiben.
Von Franz J. Schmid Yusuf Gül, 19 Jahre alt, floh zehnjährig
mit seiner Familie aus der Türkei. Der Vater ist Mitglied einer in
der Türkei verbotenen kurdischen Partei. Yusufs Eltern und seine Geschwister
haben in Deutschland Asyl erhalten. Er selbst müßte, da er mehr
als 16 Jahre alt ist, eigene Asylgründe geltend machen. Aber wie soll
das einem Menschen möglich sein, der als Kind sein Heimatland verlassen
und seither nie mehr gesehen hat. Der Einberufung zum türkischen Militär
ist er nicht gefolgt, wie sollte er auch als Sohn eines kurdischen Aktivisten.
Er hat sich also durch die Flucht dem Wehrdienst ent_zogen. Das reicht
in der Türkei für strafrechtliche Konsequenzen. Er hat seinen
Vater bei Demonstrationen in Deutschland begleitet und ist auf Zeitungsfotos
zu erkennen. Unter diesen Vorzeichen hat er bei einer Abschiebung mit einer
Festnahme, womöglich mit Folter zu rechnen. Vergleichbare Fälle
seien untersucht und ausreichend dokumentiert, sagt Friedrike von Wolff
vom Konstanzer Arbeitskreis Asyl. Sie weist auf einen Lage_bericht des
Außenministeriums hin, der indirekt von Abschiebungen in die Türkei
abrate. Die deutschen Behörden ließen sich davon nicht beeindrucken.
Der Asylantrag des Yusuf Gül wurde abgelehnt, zuletzt mit einem Urteil
des Verwaltungsgerichts Freiburg. Dem jungen Kurden bleibe in der Türkei
die inländische Fluchtalternative, lautet ein Argument. Er soll sich
also in der Türkei einen nicht gefährdeten Wohnsitz suchen oder
untertauchen? Ein Richter müßte wissen, daß kurdische
Rückkehrer schon am Flughafen mit der Sicherheitspolizei zu rechnen
haben und oftmals festgenommen werden. Yusuf Gül wäre überdies
ziemlich hilflos in einem Land, das er zuletzt als Kind gesehen hat. Vier
Wochen nach Zustellung des Urteils läuft die letzte Schutzfrist ab.
Seit dem 5.Juni ist der junge Mann von der Abschiebung bedroht. Seit den
Pfingstferien ist er untergetaucht. Yusuf Gül war in der Schule freundlich,
aber unzugänglich. Mit Lehrern sprach er überhaupt nicht, mit
deutschen Mitschülern kaum. Seine Leistung in Deutsch war ordentlich,
in Mathematik gut. Erst jetzt hat das Gutachten eines Psychotherapeuten
ergeben, daß er an einer traumatischen Angststörung leidet,
ausgelöst durch die Flucht der Familie. Yusuf ist sprachlos vor lauter
Angst. Inzwischen haben sich Schüler und Lehrer für diesen Menschen
eingesetzt, der ihnen so verschlossen erschien. Fast das gesamte Kollegium
hat an das Regierungspräsidium, das Oberschulamt und zuletzt an den
Innenminister geschrieben. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Repnik
wurde bemüht. Schüler wandten sich in einem Brief an den Oberbürgermeister.
Zuletzt hing die Wessenbergschule voller Plakate und Transparente. Schüler
und Lehrer zogen in einem Demonstrationszug durch die Stadt und setzten
sich für ihren Mitschüler ein. Vor dem Abmarsch wurde ihnen eine
Bandaufnahme vorgespielt. Yusuf Gül hatte - auf welchen Wegen auch
immer - eine Kassette in die Schule geschickt, auf der er sich bei allen
bedankt, die sich für ihn eingesetzt haben. Innenminister Thomas Schäuble
(CDU) kann die Duldung aus humanitären Gründen aussprechen und
so die Abschiebung verhindern. Der Minister habe seine Fachabteilungen
gebeten, sich um den Fall zu kümmern, hieß es. Da ist alles
drin.
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