Neue Züricher Zeitung 26.6.99
Allzu viele offene Rechnungen in der Türkei
Nach Jahren politischer Instabilität hofft die neue türkische Mehrheitsregierung unter Bülent Ecevit auf das Vertrauen der internationalen Investorenschaft. Das Pensum und die Dringlichkeit der auf wirtschaftlicher Ebene anstehenden Reformen sind enorm. Das Land plagen exorbitante Inflationsraten, und die Zinszahlungen zur Finanzierung des Haushaltdefizits fressen den Grossteil der Steuereinnahmen weg. Vergleichsweise gering ist derweil der Glaube an eine konsequente Umsetzung der angekündigten Reformschritte. tf. Istanbul, im Juni Eigentlich habe er sich ja schon ans Rechnen in Quadrillionen gewöhnt, meint der 52jährige Journalist trocken. Seit immerhin 20 Jahren schreibe er die immer gleichen Geschichten über die galoppierende türkische Inflation, was dagegen zu tun sei - und wieso es am Schluss doch nicht getan werde. Sisyphusarbeit, die ihre Spuren hinterlässt. Dunkle Augenringe und tiefe Furchen zeichnen das Gesicht des aus Anatolien stammenden Kettenrauchers; eine Furche für jede der unzähligen Regierungen, die der einstige Gewerkschafter und nachmalige Wirtschaftsredaktor des Massenblattes «Hürriyet» hat kommen und gehen sehen. An einem schattigen Platz im Istanbuler Stadtteil Maçka, unweit des Bosporus, der das europäische vom asiatischen Festland trennt, erzählt er vom schwierigen Brückenschlag seiner Heimat in eine bessere ökonomische Zukunft. Gelingt der Sprung aus dem Wasser? In diesem Land den Überblick zu wahren, fährt er fort, sei für Fremde nicht einfach. Da seien Bilder nötig. Am besten stelle man sich die türkische Wirtschaft als Luftballon vor. Und zwar als einen, der durch allerlei Kräfte ständig unter die Wasseroberfläche gedrückt werde, dem dank genügend Luft aber doch immer irgendwie der Sprung aus dem kalten Wasser gelinge. Wo sich dieser Ballon heute befinde? Natürlich unmittelbar vor einem besonders kräftigen Sprung in die Luft. Seine Zuversicht schöpft er aus der neuen Regierungskoalition, die sich in der Türkei seit rund einem Monat am Ruder befindet. Nach langwierigen innerparteilichen Querelen werde in Ankara endlich wieder das Thema Wirtschaft an oberster Stelle stehen, zeigt er sich überzeugt. Es ist jedoch eine höchst heterogene Mannschaft, auf der seine Hoffnungen ruhen. Der als Sieger aus den Wahlen vom April hervorgegangene Ministerpräsident Bülent Ecevit von der Demokratischen Linkspartei (DSP) hat sich nämlich für einen Pakt mit dem ehemaligen Erzfeind entschieden, der rechtsextremen Nationalistischen Bewegung (MHP) um Devlet Bahceli; einer Partei, die während der siebziger Jahre vor allem durch den wenig zimperlichen Umgang mit politischen Gegnern aufzufallen pflegte. Auch Ecevits Ehefrau Rahsan, die in der türkischen Öffentlichkeit eine hitzige Debatte über die dunkle Vergangenheit der einst an blutigen Strassenschlachten gegen die türkische Linke beteiligten Partei anzureissen wagte, vermochte an der realpolitischen Arithmetik ihres 75jährigen Ehemannes wenig zu ändern: Aus Widersachern wurden Regierungspartner; vervollständigt wird das ungleiche Gespann durch die konservative Mutterlandspartei (Anap) um Mesut Yilmaz. Wenigstens eine Mehrheit Eines ist klar: Die drei Parteien dürften in wirtschaftlichen Sachfragen keinesfalls immer die gleiche Sprache sprechen. Damit scheint man hier jedoch leben zu können. Hauptsache, die Regierung verfüge im 550köpfigen Parlament endlich einmal über eine komfortable Mehrheit von 351 Sitzen, wird allenthalben betont. Dies war in solcher Deutlichkeit seit 1983 nie mehr der Fall. Mit dieser Mehrheit, so hoffen zahlreiche Wirtschaftsvertreter, sollten sich auch unpopuläre ökonomische Reformen durchsetzen lassen. Und davon stehen in der Türkei, wo der Staat von der Beamtenschaft über die Landwirtschaft und die Tourismusverantwortlichen bis hin zu Exporteuren nicht zuletzt als Selbstbedienungsladen gesehen wird, in der Tat einige an. Der einflussreiche türkische Unternehmerverband Tüsiad setzt jedenfalls grosse Hoffnungen in die mittlerweile 57. Regierung der erst 76jährigen Republik: «Diese Koalition könnte gut und gern drei bis vier Jahre an der Macht bleiben», zeigt sich dessen Vorsitzender, Erkut Yücaoglu, überzeugt. Er steckt damit einen Zeitrahmen ab, in dem im vergangenen Dezennium durchschnittlich vier verschiedene Regierungen in Ankara an- und abgetreten sind. Werbefahrt auf dem Bosporus Die keimenden Hoffnungen auf den Reformeifer und den möglicherweise etwas längeren Atem der neuen Mannschaft wollen genutzt sein. Bei einer abendlichen Bootsfahrt auf dem Bosporus versucht ein aus Ankara angereister Vertreter des Staatssekretariates für Aussenhandel, ausländische Medienvertreter von den Vorzügen des hiesigen Investitionsstandortes zu überzeugen. Von den ewigen Diskussionen über die Lebenserwartung türkischer Regierungen möchte er am liebsten nichts mehr hören: «Machen Sie sich darüber nicht zuviel Sorgen. Stabilität liefert in diesem Land die Bürokratie, sie verharrt an den Hebeln der Macht», wischt er solche Fragen beim Apéro summarisch beiseite - und fährt in schwärmerischen Worten fort mit seinen Erläuterungen zur Geschichte des ehemaligen Konstantinopels, mit der Hand in die Richtung jener Prachtsvillen am Ufer weisend, wo die türkische Elite heute ihre Briefkästen angeschrieben hat. Der Anfang der achtziger Jahre von Turgut Özal eingeschlagene Prozess der wirtschaftlichen Öffnung und Liberalisierung sei unumkehrbar. «Welche Regierung auch immer an der Macht stehen mag», beendet der umtriebige Bürokrat das Thema Politik endgültig. Das Erbe des Geniessers Seit den Tagen Özals hat sich der Horizont der türkischen Wirtschaft in der Tat erweitert. Der im Unterschied zum drahtigen Literaten Ecevit weniger mit intellektuellem als vielmehr mit bodenständigem Habitus und viel Sinn für die Genüsse des Lebens auftretende Politiker betrachtete die Welt ausserhalb der Landesgrenzen nicht - wie vor ihm das Militär - als territoriale Bedrohung, sondern als ökonomische Chance. Parallel zu einer zügigen Handelsliberalisierung forderte er die Bevölkerung auf, ihr Anspruchsdenken gegenüber dem Staat abzulegen und sich an die Übernahme von Eigenverantwortung zu gewöhnen. «Werdet reich, wie auch immer!» lautete der ebenso verlockende wie verfängliche Imperativ des aus Ostanatolien stammenden Politikers mit teilweise kurdischen Wurzeln. Mit dem Werkzeug einer vom Militär neu aufgesetzten Staatsverfassung, die aus demokratischer Sicht eher einer Zwangsjacke gleicht, nahm er den Marsch in Richtung mehr Marktwirtschaft in Angriff. Mit einigem Erfolg, auch über seinen überraschenden Tod im April 1993 hinaus: Zwischen 1984 und 1995 wurden im Durchschnitt reale Wachstumsraten von 5% registriert, seit 1995 wuchs die Wirtschaft gar um 7% bis 8% jährlich. Die industrielle Produktion wurde forciert und die für Entwicklungsländer typische Abhängigkeit vom Export wertschöpfungsarmer Agrarprodukte reduziert. Betrug der Anteil landwirtschaftlicher Produkte an den Gesamtexporten 1970 noch 63%, verringerte er sich bis Anfang der achtziger Jahre auf 57% und betrug im vergangenen Jahr gerade noch 10%. In den türkischen Exportstatistiken machten sich mit anderen Worten in verstärktem Masse wertschöpfungsintensive Industrieprodukte breit. Die Abkehr von der Entwicklungsdoktrin der Importsubstitution hin zur Exportpromotion liess den Anteil des Aussenhandels am Bruttoinlandprodukt von 15,3% im Jahre 1980 auf 36% im vergangenen Jahr hochschnellen. Von Jahr zu Jahr wurden neue Märkte erschlossen, und die seit 1996 bestehende Zollunion mit der Europäischen Union fand durch zahlreiche Freihandelsabkommen vor allem mit osteuropäischen, baltischen und nordafrikanischen Staaten eine Ergänzung. Inmitten einer Rezession Die Dynamik der wirtschaftlichen Öffnung ist zwar beeindruckend. Trotzdem mag bei der Beurteilung der türkischen Wirtschaft niemand in Euphorie ausbrechen, am wenigsten auf Grund der jüngsten Konjunkturdaten. Höchstens mit 2% dürfte die türkische Wirtschaft 1999 wachsen. «Und das bedeutet in diesem Land Rezession, schwere Rezession», mahnt Tüsiad-Chef Yücaoglu. Die seit mehreren Jahrzehnten in schwindelerregenden Höhen taumelnde Inflationsrate wird gemäss Berechnungen des Wirtschaftsverbandes bis Ende Jahr auf einem Niveau von 54% landen - rund 10% über der offiziellen Regierungsschätzung, aber immerhin 6% unter dem Durchschnitt der vergangenen 25 Jahre. Und der Zwang zur Finanzierung des massiven Haushaltdefizits, das sich 1999 nach Schätzungen von Fachleuten auf 12% des Bruttoinlandproduktes summieren wird, dürfte die Realzinssätze nicht unter die Marke von 30% sinken lassen. Das ist schwere Kost für die an den Rand gedrängten Privatinvestoren, derweil sich die Schere zwischen öffentlichen Ausgaben und Einnahmen immer stärker öffnet. Von 4,3 Quadrillionen türkischen Lira, die der Staat in den ersten vier Monaten des laufenden Jahres an Steuern einnahm, wurden 3,3 Quadrillionen sogleich für Zinszahlungen verwendet. «Die Zinszahlungen haben den Staatshaushalt vollends in ihren Würgegriff genommen. Der Etat hat die Charakteristiken dessen verloren, was man die Basis einer Wirtschaftspolitik nennen könnte», umschrieb Finanzminister Sümer Oral diese Situation unlängst in den «Turkish Daily News» in wenig beschönigenden Worten. Und die Tatsache, dass beim Heranlocken ausländischer Direktinvestoren erst wenig dicke Fische im Netz hängengeblieben sind, entspannt die Situation kaum. Wenn schliesslich infolge der Asien- und der für die Türkei ungleich schmerzhafteren Russland- Krise den Emerging markets ohnehin mehr Skepsis entgegengebracht wird, ist der Handlungsbedarf zu klaren Reformen endgültig angezeigt. Hehre Absichten und begründete Zweifel Das scheint auch die neue Regierung erkannt zu haben - bis anhin jedoch allein rhetorisch. Würde die Hälfte dessen, was Ecevit an einem verregneten Nachmittag vor versammelter Auslandspresse an ökonomischen Reformen ankündigt, mit Erfolg umgesetzt, käme dies einem enormen Stimulus für die türkische Wirtschaft gleich: Einstellig soll die Inflationsrate bis Ende 2001 sein, verkündet er im streng bewachten Regierungsdistrikt Ankaras am ovalen Kabinettstisch. Wenn über seinem Haupt das goldgerahmte Konterfei des omnipräsenten Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk und weitere beflaggte Ingredienzen staatlicher Autorität thronen, gibt dies seinen Worten zwar einen würdigen Anstrich. An die Erfüllung seiner Prophezeiung mag im Land aber kaum jemand glauben, auch wenn seit knapp einem Jahr der Internationale Währungsfonds regelmässig über die Fortschritte bei der Inflationsbekämpfung wacht. Zu verhalten sind bis anhin die eingeleiteten Massnahmen geblieben. Zweifel sind auch an dem von Ecevit nicht weniger bestimmt vorgetragenen Willen angebracht, die faktisch zum Stillstand gekommene Privatisierung ehemaliger Staatsbetriebe zügig voranzutreiben. Denn erstens sind die zwei gewichtigen Regierungsparteien DSP und MHP allen Schalmeienklängen zum Trotz nach wie vor von einem stark etatistischen Gedankengut geprägt; und zweitens krankt der Privatisierungsprozess seit der Aufdeckung unsauberer Praktiken beim Wechsel von Staats- in Privateigentum an einem massiven Glaubwürdigkeitsproblem in der Bevölkerung. - Weit oben auf die Prioritätenliste setzt der neue Regierungschef auch die zügige Reform des Bankengesetzes. Die von Familienkartellen dominierte Branche soll endlich einer regierungsunabhängigen Aufsicht unterstellt werden. Da die Kontrollpflichten in Zukunft zwar nicht mehr von der Zentralbank und dem Schatzamt wahrgenommen werden, die dafür Verantwortlichen jedoch weiterhin von der Regierung zu wählen sind, wollen Beobachter nicht recht an den Erfolg der beabsichtigten Entpolitisierung des Bankensystems glauben. Luftholen statt Luftsprünge Einen gewichtigen Brocken stellt schliesslich die vom Ministerpräsidenten in Aussicht gestellte Reform des Sozialversicherungssystems dar; eines Systems, das heute Frauen bisweilen bereits ab 38 und Männern ab 42 Jahren zu Pensionsansprüchen verhilft. Mit einschneidenden, indes höchst unpopulären Reformen dieses von Ecevit mit Recht als «schwarzes Loch» titulierten Systems wird sich in der türkischen Politlandschaft aber niemand die Gunst der Wähler verspielen wollen. Wer weiss schon, wann die Wahlen für die 58. Regierung anstehen? Die Liste der angekündigten Wirtschaftsreformen mag also lang sein.
Das Papier, auf dem die hehren Vorsätze niedergeschrieben sind, ist
jedoch weit geduldiger als die türkische und internationale Unternehmerschaft.
Diesen Umstand erwähnt am Schluss des Gespräches am schattigen
Platz in Meçka auch der Journalist aus Anatolien; auch er zählt
mit seinen 52 Jahren bereits zu den Beziehern von Pensionsgeldern. Ob seiner
Prophezeiung, dass die türkische Wirtschaft schon bald mit viel Elan
aus dem Wasser springen wird, vor allem der Wunsch Pate stand, bleibt bis
zu den ersten Tatbeweisen der Regierung zumindest fraglich. Angesichts
des stürmischen Wellenganges im Land am Bosporus wären wohl viele
schon mit einem tiefen Luftholen zufrieden.
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