DIE WELT, 29. 06. 1999
Die Türkei sucht nach einem neuen Weg in Richtung Europa
Von Dietrich Alexander Berlin Noch vor gut einem Jahr sah alles ganz anders aus: Die Regierungen in Ankara und Bonn gifteten sich gegenseitig an, vor allem der damalige türkische Ministerpräsident Mesut Yilmaz schien mit immer schrilleren Verbalattacken gegen Deutschland und besonders gegen seinen „Freund" und Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) die Fassung zu verlieren. Die türkische Regierung hatte in Deutschland den Hauptschuldigen an der Verweigerungshaltung der Europäischen Union (EU) ausgemacht: Die Tür zur EU war so sahen es jedenfalls die Türken zugefallen. Der damalige EU-Ratspräsi dent, der luxemburgische Regierungschef Jean-Claude Juncker, habe sich deutschem Diktat gebeugt. Nicht einmal Beitrittsvorverhandlungen wolle der „Christenclub", wie Yilmaz die EU abfällig nannte, mit der Türkei führen. Der Premier verstieg sich gar zu der Bemerkung, die Erweiterungspolitik der EU gleiche der der Nationalsozialisten: „Die Deutschen verfolgen die gleiche Strategie wie früher. Sie glauben an den Lebensraum. Das bedeutet, die mittel- und osteuropäischen Länder sind für Europa und Deutschland als deren Hinterhof von strategischer Bedeutung", sagte Yilmaz im März vergangenen Jahres der „Financial Times". Der Premier, der in Deutschland studiert hat und die deutsche Sprache perfekt beherrscht, wußte genau, was er sagte. Diese verbalen Entgleisungen markierten den Tiefpunkt der deutsch-türkischen Beziehungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In der Tat hat der EU-Beschluß vom Dezember 1997, die Türkei nicht in den engeren Kreis der Länder aufzunehmen, mit denen Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden sollen, die Türken in ihrem Stolz tief verletzt. Sie reagierten mit Trotz. Und Yilmaz, der sich bereits für den bevorstehenden Wahlkampf wappnete und schärferes außenpolitisches Profil benötigte, machte sich diesen Ärger zu nutze. Doch es half nichts, heute bestimmen andere die türkische Politik, genau wie in Deutschland. Die Probleme sind zwar immer noch die gleichen, doch bemüht man sich um mehr Sachlichkeit in der Diskussion. Die EU macht nach wie vor den Kurden-Konflikt in Südostanatolien, der mit dem bevorstehenden Todesurteil gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan neue Brisanz erhält, die ungelöste Zypernfrage und die bedenkliche Lage der Menschenrechte für ihre ablehnende Haltung geltend. Die Diskussion darüber dreht sich im Kreis, neue Argumente und Lösungsansätze fehlen. In Brüssel geht auch die Angst vor einem starken politischen Einfluß der Türkei um: Ankara hätte bei Vollmitgliedschaft zehn Stimmen im EU-Ministerrat und 91 Sitze im Europäischen Parlament. Die EU-Strategen befürchten zudem eine Kostenexplosion: Im ländlichen Anatolien trägt die Türkei die Züge eines Entwicklungslandes und gilt als ein Nettoempfänger für EU-Gelder par excellence. Dennoch könnte es nun einen Neuanfang in den zerrütteten Beziehungen
geben. Mehr Ehrlichkeit ist gefragt, von beiden Seiten. Tatsächlich
gibt es in den deutsch-türkischen Bezeihungen seit Mitte der achtziger
Jahre immer wieder Probleme, die mit diplomatischen Floskeln notdürftig
geglättet werden konnten. Vor allem aber muß das bilaterale
Verhältnis von Mythen befreit werden: Deutschland ist eben nicht der
alleinentscheidende Motor der EU, sondern nur eines ihrer Mitglieder. Die
deutsche Gesellschaft hat sich nach dem Krieg elementar verändert,
doch das Verhältnis der Türkei zu Deutschland ist vielfach noch
immer von Mißverständnissen geprägt. Und die Türkei
ist eben nicht nur geopolitische Verfügungsmasse, sondern ein Land,
das seinen Weg sucht zwischen Säkularität und Islam. Eine langfristige
Perspektive auf dem Weg nach Europa würde Ankara helfen.
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