junge Welt 30.6.99
Ein Todesurteil gegen die Verständigung
Das Urteil erreichte die Parlamentarier in der Großen Türkischen Nationalversammlung während der Lesung des Haushaltsentwurfs für das zweite Halbjahr 1999. Der Redner von der Mutterlandspartei ANAP, Yylmaz Karakoyunlu, gab die ihm zugesteckte Nachricht an die Parlamentarier weiter, woraufhin grosser Jubel ausbrach. Karakoyunlu sagte, die unabhängige türkische Justiz hätte ihr Urteil gefällt, jetzt hätten die Mitglieder des Parlaments das letzte Wort. Jubelgesänge aus den Reihen der faschistischen Nationalistischen Bewegungspartei (MHP). Ihr Vorsitzender und stellvertretender Ministerpräsident, Devlet Bahçeli, brachte den Wunsch zum Ausdruck, daß das Urteil dem Staat und der Nation Wohlfahrt bringen möge. Auch der frühere, für Menschenrechtsfragen zuständige Staatsminister von der Partei des Rechten Weges (DYP), Ayvaz Gökdemir, sagte, im Falle der Ablehnung durch das Parlament würde der Eindruck entstehen, daß das Land sich dem Druck des Auslands beuge. Kritik an dem Urteil gab es allerdings seitens der Menschenrechtsorganisationen und oppositionellen Parteien in der Türkei. Nach Ansicht des Verfassungsrechtlers Ybrahim Kaboglu, der die Abteilung für Menschenrechtsfragen bei der Istanbuler Anwaltskammer leitet, unterstrich, daß der Europäische Gerichtshof das Todesurteil gegen Öcalan nicht bestätigen werde. In diesem Fall werde das Land vor eine politische Entscheidung gestellt, da das türkische Parlament schließlich über die Vollstreckung des Urteils zu entscheiden hätte. Der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins (IHD), Hüsnü Öndül, erklärte, seine Organisation sei grundsätzlich gegen die Todesstrafe. Öndül sagte, in einer Zeit, in der das gesellschaftliche Bedürfnis nach Frieden immer größer werde, werde das angekündigte Todesurteil gegen Öcalan neue Wunden aufbrechen lassen. Der stellvertretende Vorsitzende der Partei der Arbeit (EMEP), Muhammet Uludag, verwies darauf, daß mit dem Todesurteil weder das kurdisch, noch andere Probleme des Landes gelöst werden könnten. »Mit einer beispiellosen chauvinistischen Kampagne wurde das Verfahren gegen Öcalan in eine nationalistische Show umgewandelt.« Uludag rief die Werktätigen verschiedener Nationalitäten in der Türkei dazu auf, gemeinsam und in Brüderlichkeit für die demokratische Lösung des Problems einzutreten. Der Vorsitzende der Partei für Freiheit und Solidarität (ÖDP), Ufuk Uras, forderte die Aufhebung der Todesstrafe. Er rief den türkischen Staat dazu auf, die von ihm unterzeichneten internationalen Menschenrechtsabkommen einzuhalten. Er forderte ferner, eine Verfassungsreform, die ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Türken und Kurden in Freiheit und Demokratie gewährleisten soll. Auch die prokurdische Partei der Demokratie des Volkes (HADEP) kritisierte das Todesurteil. Der stellvertretende Vorsitzende Osman Özçelik bewertete das Urteil als »juristischen Ausdruck eines bereits feststehenden Entscheidung«. Er bemängelte, daß während des Prozesses rechtsstaatliche Grundsätze mehrfach verletzt worden seien. Die Föderation der Demokratischen Arbeitervereine aus der Türkei (DYDF) mit Sitz in Köln verurteilte das Urteil als eine politische Entscheidung und kritisierte die Haltung der europäischen Laender, die wegen ihrer Unterstützung des türkischen Staates an dem Völkermord an den Kurden mitverantwortlich seien. Ihre Appelle an die Kurden in Deutschland, Ruhe zu bewahren, sei aufgrund der Tatsache, Öcalan in die Hände des türkischen Staates ausgeliefert zu haben, lediglich ein Zeugnis ihrer doppelzüngigen Politik. Sultan Özer und Beyda Yildiz, Mudanya Das Schlußwort Öcalans »Ich weise den Vorwurf des Landesverrats
von mir. Ich bin der Überzeugung, für die Einheit des Vaterlands
und für ein freies Laben gekämpft zu haben. Ich bin der Überzeugung,
nich gegen die Republik, sondern für eine demokratische Republik gekämpft
zu haben. Ich hoffe, daß das Problem, das in der Geschichte durch
Fehler vergrössert wurde, gelöst werden kann. Ich möchte,
daß dieses Verfahren dazu beitragen wird. Ich möchte meinen
Appell nach einem gerechten und stolzen Frieden sowie nach Brüderlichkeit
im Rahmen einer demokratischen Republik wiederholen: Ich rufe die Menschheit,
den Staat und alle gesellschaftlichen Kräfte auf, ihrer diesbezüglichen
Verantwortung gerecht zu werden. Ich glaube fest daran, daß die Zukunft
des Landes nicht über den Weg des Krieges, sondern des Friedens führt
und grüsse alle.«
|