Frankfurter Rundschau, 7.7.99

Öcalans Balance zwischen den "Zivilisten" und den "Militärs"
Die Türkei und Europa, die Kurden und der Prozeß gegen ihren "unsterblichen" Führer /


Von Martin van Bruinessen
Der Prozeß gegen den Kurden-Führer Öcalan läuft nach einem Drehbuch, das alle längst kennen. Unbekannter sind die Hintergründe, die schließlich zu dem Prozeß geführt haben. Der Autor des folgenden Beitrags, Martin van Bruinessen, ist Kurdologe an der Utrecht Universität. Seinen Essay übernahmen wir aus der Zeitschrift INAMO, Heft 18, Jahrg. 5, Sommer 1999 Kurdistan-Türkei: Verhängnisvoller "Sieg" - verpaßte Chance. Zu bestellen (für 10 DM): INAMO, Postfach 3613, 90018 Nürnberg oder redaktion@inamo.de An den Händen gefesselt, mit verbundenen Augen, und als ob er aus einem durch Drogen verursachten Schlaf aufwachen würde, erzählte Abdullah Öcalan maskierten türkischen Sicherheitskräften, daß er das türkische Volk wirklich liebe, daß er zur Kooperation bereit sei und daß er ihnen sehr nützlich sein könne. Weltweit strahlten die großen TV-Stationen immer und immer wieder diese erniedrigende Szene in ihren Nachrichtensendungen aus. In der Türkei ließen diese Bilder einen leidenschaftlichen Nationalismus aufwallen, für die Kurden aller politischen Richtungen, Öcalans erbittertsten Gegnern inbegriffen, waren sie eine Schmach. Die Ausstrahlung dieser Bilder, denen noch weitere folgten, sollten ganz offensichtlich Öcalans Charisma zerstören, indem sie ihn als gebrochenen und schwachen Menschen zeigten, der bereit ist, seine Sache zu verraten. In dem Bemühen, etwaiges Mitleid oder gar Sympathie für Öcalan entgegenzuwirken, bezeichneten ihn die türkischen Medien immer nur als "Babykiller" und "Terroristenchef". Diese Propaganda bewirkte unter anderem, daß die Kurden die Reihen schlossen. Fast jeder Kurde fühlte sich persönlich gedemütigt und identifizierte sich bis zu einem gewissen Grade sogar mit Öcalans Schicksal. Selbst Anhänger der irakischen Kurdischen Demokratischen Partei (KDP), die mit Öcalans PKK einen Krieg führte, sprach von einem schwarzen Tag für alle Kurden. Vielleicht hätten sie applaudiert, wenn Öcalan irgendwo in Europa vor Gericht gestellt oder in ein fernes Land abgeschoben und somit politisch neutralisiert worden wäre. Als er aber gefangen und in die Türkei gebracht wurde, wurde ihnen klar, daß es sich um eine Verschwörung handelte, in die die Türkei, die USA, Israel und, zumindest indirekt, Westeuropa verwickelt waren. Die kurdische Reaktion auf Öcalans Gefangennahme zeigte deutlich, wie sehr die kurdische Nationalbewegung inzwischen ein internationales Phänomen geworden ist. Binnen weniger Stunden nach dem Bekanntwerden der Festnahme besetzten radikale PKK-Mitglieder in ganz Europa diplomatische Missionen Griechenlands. Die Besetzer erhielten sehr schnell moralische Unterstützung von zunächst Hunderten, und dann Tausenden anderer Kurden, die sich vor den Botschaften und Konsulaten versammelten. In einigen Städten randalierten offensichtlich unorganisierte Kurden, bewarfen türkische Cafés und Geschäfte mit Steinen und verursachten dabei erheblichen Sachschaden. Großdemonstrationen fanden nicht nur in Westeuropa und Rußland statt, sondern auch in den größeren kurdischen Städten in Irak und in Iran. Das türkische Konsulat in Urmia (Iran) wurde tagelang belagert, in Sulaymaniya und Arbil gingen derart viele Menschen auf die Straße, daß einige Kommentatoren meinten, die Gefangennahme Öcalans durch die Türkei hätte ihn bei den irakischen Kurden zu einem bedeutenderen Nationalsymbol gemacht als deren eigene Führer. In der Türkei selbst fanden Proteste statt sowohl in den kurdischen Provinzen als auch in den von Kurden bewohnten Stadtteilen Istanbuls. Die Gefangeneninsel Imrali im Marmara-Meer ist die vorerst letzte Station der Odyssee Öcalans, die fünf Monate zuvor mit seiner erzwungenen Ausreise aus Syrien begonnen hatte, dem Land, das lange der wichtigste ausländische Unterstützer der PKK gewesen war. Nach einem kurzen geheimen Aufenthalt in Rußland begab er sich nach Italien; sein dortiger zweimonatiger Aufenthalt führte zu heftigen diplomatischen Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und Italien, aber auch zu einer bislang noch nie dagewesenen Berichterstattung der Medien über die Kurdenfrage in der Türkei - meistens mit eindeutigen Sympathien für die Kurden. Öcalan selbst jedoch war für Europa ein zu heißes Eisen; kein europäischer Staat wollte ihm Asyl gewähren oder ihn vor Gericht stellen. Die PKK bzw. die Kurden allgemein machen Europa für Öcalans Gefangennahme verantwortlich; ihr Zorn über Europa reflektiert indes auch ihre hohen Erwartungen, die sie noch wenige Monate zuvor bei der Ankunft Öcalans in Italien hatten. Öcalan hatte fast zwei Jahrzehnte in Syrien gelebt, in denen er abhängig vom Assad-Regime geworden war. Was immer auch die Gründe seiner Ausreise aus Syrien gewesen sein mögen, so schien diese doch jene Kurden zu stärken, die glaubten, daß die Kurdenfrage in der Türkei nur durch eine aktivere Rolle Europas gelöst werden könne. Syrien und die PKK Viele Kurden waren der Meinung, daß Öcalans (obgleich nicht ganz freiwillige) Ausreise aus Syrien ihre positiven Seiten habe. Nur wenige machten sich Illusionen über Syriens Motivation, die PKK zu unterstützen. Zunächst war sie ein Trumpf in den Händen Assads bei seinen Konflikten mit der Türkei über die Provinz Hatay (Alexandrette) und das Euphrat-Wasser; die PKK half dem Assad-Regime aber auch dabei, die im eigenen Land lebenden Kurden ruhigzustellen und seinen Einfluß in den Nordirak auszudehnen. Durch eine erfolgreiche Mobilisierung für ihre Sache hielt die PKK die syrischen Kurden, die etwa 10 Prozent der syrischen Bevölkerung ausmachen, davon ab, ihren (sehr berechtigten) Groll über das syrische Regime offen zum Ausdruck zu bringen. Angeblich soll sich sogar eine beträchtliche Zahl syrischer Kurden der PKK-Guerilla angeschlossen und an Operationen innerhalb Türkisch-Kurdistans teilgenommen haben. Die PKK wurde aber auch beschuldigt, in Syrien als verlängerter Arm der syrischen Geheimdienste gehandelt zu haben und gegen kurdische Dissidenten vorgegangen zu sein. Auch einige in Irakisch-Kurdistan durchgeführte PKK-Operationen (beispielsweise 1995 gegen die KDP) erwecken den Anschein, den syrischen Interessen genauso gedient zu haben wie den eigenen. Syriens Interesse an der Unterstützung der PKK bestand vorrangig darin, daß sie gegen den türkischen Staat kämpfte; Assad lag daher wenig daran, die PKK zu einer friedlichen Regelung mit der Türkei zu überreden. Wenn die PKK tatsächlich, wie sie seit 1993 behauptet, wirklich vom bewaffneten Widerstand zu politischen Verhandlungen hätte übergehen wollen, wäre die Abhängigkeit von Syrien möglicherweise sogar ein ernsthaftes Hindernis gewesen. Andere Kurden sahen noch eine andere Gefahr: In den siebziger Jahren hatte sich die irakisch-kurdische Bewegung des Mulla Mustafa in eine derartige Abhängigkeit von Iran (und, indirekt, auch von den USA) begeben, daß die Bewegung binnen weniger Wochen zusammenbrach, nachdem der Schah mit Saddam Hussein ein Abkommen geschlossen und seine Unterstützung entzogen hatte. Die militärische Schwächung der PKK war möglicherweise ein Grund, warum Syrien die PKK losließ, andere waren der wachsende internationale (besonders amerikanische) Druck und die türkische Drohung mit einer bewaffneten Intervention. Syrien war bestrebt, von der eine gewisse politische und ökonomische Isolation verursachenden Liste der den Terror unterstützenden Länder gestrichen zu werden, und hatte auch immer geleugnet, Öcalan und die PKK zu beherbergen. Als 1992 eine hochrangige türkische Delegation Damaskus einen Besuch abstattete, ging Syrien sogar soweit und unterzeichnete ein Protokoll, in dem die PKK als "geächtete Organisation" bezeichnet und es zur Zusammenarbeit gegen den Terrorismus verpflichtet wurde. Das wichtigste Ausbildungslager der PKK in der von Syrien kontrollierten Bekaa Ebene in Ostlibanon wurde aufgelöst, obgleich kleinere Lager weiterhin bestanden. Syrien scheint Öcalan auch aufgefordert zu haben, sich unauffällig zu verhalten und die Anwesenheit seiner Organisation nicht mehr so offenkundig werden zu lassen. Wahrscheinlich wurde von da ab auch Druck auf ihn ausgeübt, sich in einem anderen Land niederzulassen. Der PKK nahestehenden Kreisen zufolge erhöhte sich in den letzten Jahren zusehends der amerikanische Druck auf Syrien, die PKK nicht mehr zu unterstützen, woraufhin Damaskus die PKK wissen ließ, daß sie die syrische Gastfreundschaft nun zu Genüge genug genossen hätte. Das türkische Säbelrasseln im Oktober 1998 war dann nur noch der letzte Anstoß. Die anderen Nachbarn der Türkei Die PKK war keineswegs ausschließlich auf Syrien angewiesen, sondern hatte sich erfolgreich auch andernorts umgetan. Seit den frühen 80er Jahren unterhielt sie Stützpunkte in Nordirak und im Nordwesten Irans und erhöhte dort ab den 90er Jahren ihre Präsenz, indem sie Leute aus Libanon und aus Syrien zu Lagern in Iran und in jenen Gebieten in Nordirak abzog, die von Mahud Barzanis Kurdischer Demokratischer Partei (KDP) und von Jalal Talabanis Patriotischer Union Kurdistans (PUK) kontrolliert wurden. Die Türkei führte zahllose Kommandounternehmen in Nordirak aus, und selbst Invasionen im großen Maßstab (mit Zehntausenden Soldaten und schwerem Kriegsgerät) konnte die PKK aber nie zerschlagen, deren Popularität bei den irakischen Kurden inzwischen sehr groß geworden war. Diese Popularität stieg noch, als sich zwischen der Zivilbevölkerung und den irakischen Kurdenparteien, deren Streitereien 1994 in einen offenen Krieg mündeten, eine immer größer werdende Kluft auftat. Die Türkei machte ihre Unterstützung der amerikanischen Bemühungen, den Konflikt zwischen den beiden kurdischen Parteien zu schlichten, davon abhängig, daß die USA die PKK daran hindere, in der Region aktiv zu werden. Seit 1995 bekämpft die PKK die KDP Barzanis und hat dadurch einen Großteil der Sympathien bei den irakischen Kurden eingebüßt. Die größten PKK-Lager sollen sich angeblich in der südlich des 36. Breitengrades gelegenen kurdisch-irakischen Makhmur-Provinz befinden, die weder von der KDP noch von der PKK, sondern von der Zentralregierung kontrolliert wird. Trotz der vereinten Bemühungen der türkischen Armee und der KDP verfügt die PKK auch noch über eine Reihe kleinerer Stützpunkte in der Nähe der Grenzen zur Türkei und zu Iran. In anderen Nachbarstaaten der Türkei (Iran, Armenien, Rußland, Griechenland, Griechisch-Zypern) kann die PKK vor allem mit der Unterstützung einflußreicher, aber nicht auf Regierungsebene anzusiedelnder Interessengruppen rechnen. Am kompliziertesten verhält es sich wohl im Falle Irans aufgrund der dort herrschenden Rivalität zweier Lager um Einfluß im Staat. Einerseits hat die iranische Regierung schon mehrmals gefangene PKK-Aktivisten gegen in der Türkei inhaftierte iranische Oppositionelle ausgetauscht; andererseits aber ist es kein Geheimnis, daß die PKK über Kontakte mit hohen iranischen Regierungsstellen verfügt (angeblich mit den Revolutionswächtern) und in der Vergangenheit Militärhilfe in beträchtlichem Umfang erhalten hat. In Armenien besteht eine allgemeine Sympathie für den Kampf des kurdischen Volkes gegen den türkischen Staat. Zwar hat die armenische Regierung großes Interesse an einem guten Verhältnis zur Türkei, doch bedeutende Oppositionsgruppen scheinen der PKK konkrete Hilfe zu leisten. In Rußland wiederum, wie auch in Griechenland, unterstützen auf die eine oder andere Weise einflußreiche nationalistische Gruppen mit Verbindungen zu Armee und Geheimdienst die PKK; diese Gruppen haben die jeweiligen Regierungen in den letzten Monaten öfters in Verlegenheit gebracht, nachdem sie Öcalan zur illegalen Einreise verholfen hatten. Zwischen Guerillakrieg und Diplomatie Viele Kurden, nicht nur PKK-Sympathisanten, knüpften an die Ankunft Öcalans in Italien die Hoffnung, daß, trotz der wütenden Reaktionen der Türkei, der Aufenthalts Öcalans in Europa langfristig einer Lösung des Konflikts auf dem Verhandlungswege den Weg bereiten würde. Es wurde erwartet, daß sich das Kräfteverhältnis zwischen dem "militärischen"und dem "politischen" Lager innerhalb der PKK-Führung zugunsten des letzteren ändern würde und daß die PKK nun den Alleinvertretungsanspruch aufgeben, andere als Repräsentanten für das kurdische Volk akzeptieren und vielleicht sogar selbst pluralistischer würde. Die Chefs konkurrierender kurdischer Organisationen, wie Kemal Burkay von der Sozialistischen Partei Kurdistans, drängten die italienische Regierung, Öcalan Asyl zu gewähren. Kurdische Führungspersönlichkeiten aller politischen Couleur, auch Gegner der PKK, folgten Öcalans Einladung nach Rom, um dort mit ihm über mögliche zukünftige Strategien zu diskutieren. Öcalan und seine Mitarbeiter kündigten Pläne an, einen kurdischen Nationalkongreß einzuberufen, bei dem sämtliche Parteien und Organisationen repräsentiert sein sollten. Außer der irakischen KDP signalisierten alle kurdischen Parteien ihr Interesse an einer solchen Konferenz. Jedoch war Öcalan nicht unbedingt deswegen nach Europa gekommen, um sein Terroristenimage loszuwerden, obgleich viele seiner Anhänger genau dies wollten. Die veränderten Aufstandsbekämpfungstechniken der Türkei (darunter, unter Premierministerin Ciller und Generalstabschef Dogan Güres, die Evakuierung und Zerstörung Tausender Dörfer und der Einsatz von Todesschwadronen gegen kurdische Führungspersönlichkeiten, Rechtsanwälte und Politiker) hatten einen Großteil der zivilen Unterstützungsstruktur der PKK zerstört. Während in den frühen 90er Jahren die PKK mittels lokaler Komitees zahlreiche Städte wie Nüsaybin, Cizre und Shirnak vollständig und in größeren Städten wie Diyarbakir ganze Viertel sowie auch einige ländliche Gebiete kontrollierte, hatte sie bis 1995 ihre zivile Infrastruktur schon weitgehend verloren und war zu einer reinen Militärorganisation reduziert worden. Die Entvölkerung zahlreicher Dörfer, von denen die PKK abhängig war, versetzte die türkische Armee in die Lage, der PKK erhebliche Verluste zuzufügen. Ihre militärische Präsenz innerhalb der Türkei hat sich seit 1995 erheblich verringert, obgleich es im Innern des Landes nach wie vor bewaffnete PKK-Einheiten gibt und die PKK ihre Operationen sogar bis in die Provinzen am Schwarzen Meer ausdehnen konnte. Öcalans Aufrufe zur friedlichen Beilegung des Konflikts waren keineswegs nur Folge der militärischen Niederlage der PKK, wie die türkischen Behörden behaupteten. Schon seit den frühen 90er Jahren, als seine Bewegung am stärksten war, war er bestrebt, den Guerillakampf in einen zuvorderst politischen Kampf zu wandeln. Er widerrief die früheren pankurdischen Ansprüche der PKK und zeigte sich als eifriger Befürworter von Verhandlungen mit der Türkei. Den ersten Schritt in diese Richtung machte er gegenüber der türkischen Öffentlichkeit im Jahre 1988 in einem Interview mit der türkischen Tageszeitung Milliyet. Im März 1993 (wie auch 1995 und 1998) erklärte Öcalan dann einen einseitigen Waffenstillstand und forderte die Türkei auf, darauf in Form von Konzessionen an kurdische Forderungen, die die Kultur betrafen, zu reagieren; außerdem zeigte er sich willens, bei eventuellen Gesprächen auch andere kurdische Repräsentanten anzuerkennen. Über Journalisten, die dem damaligen Präsidenten Özal und dem damaligen Premierminister Demirel nahestanden, waren indirekte Kontakte schon im Jahr zuvor hergestellt worden. Öcalan wußte, daß Özal, wenngleich auf sich alleingestellt, zu einer Lösung der Kurdenfrage entschlossen war, und erwartete von ihm entsprechende Initiativen. Als dann Özal im März 1993 an einem Herzanfall starb, witterten die Kurden ein übles Spiel und waren überzeugt, daß der Präsident von jenen Falken ermordet worden sei, die in den folgenden Jahren den "schmutzigen Krieg" führten. Als 1990 mit der HEP die erste legale kurdische Partei gegründet wurde, genoß diese die volle Unterstützung der PKK, obgleich die HEP ein wesentlich breiteres politisches Spektrum repräsentierte. Zwar versuchte die PKK, die HEP sowie deren Nachfolger DEP und HADEP unter ihre Kontrolle zu bringen; diese legalen Parteien waren aber immer mehr als simple PKK-Anhängsel. Als es der türkischen Regierung gelang, die parlamentarische Immunität einiger Abgeordneter dieser Partei aufheben zu lassen, flohen die der PKK am nächsten stehenden Abgeordneten nach Europa; ihre Kollegen wanderten vom Parlament ins Gefängnis. Vor allem ehemalige Mitglieder dieser Partei gründeten dann 1995 das kurdische Exilparlament, das als kurdische Exilregierung und gleichzeitig als diplomatische Vertretung fungieren sollte. Die bedeutendsten diplomatischen Kontakte konnte die PKK bisher ausgerechnet mit Deutschland herstellen, das die Partei nach einer Reihe von Gewaltaktionen gegen meist türkische Einrichtungen verboten hatte. Zwar bewirkte dieses Verbot einen erheblichen Rückgang der legalen Aktivitäten von Gruppen, die mit der PKK sympathisierten, es vermochte aber weder etwas gegen illegale Untergrundaktivitäten der PKK auszurichten noch gegen den Umstand, daß sie immer mehr Zuspruch seitens der in Deutschland lebenden Kurden erhielt. Ab 1996 besuchten hochrangige Vertreter der Bundesrepublik (darunter auch dem damaligen Bundeskanzler Kohl nahestehende Politiker und Regierungsberater) Öcalan in Libanon und in Damaskus und erhielten offensichtlich Zusicherungen, daß die PKK auf Gewaltanwendung auf deutschem Boden fortan verzichten werde. Zwar hob die Bundesrepublik im Gegenzug keineswegs das Verbot auf, tolerierte aber doch stillschweigend PKK-Aktivitäten. Um das Erreichte nicht zu gefährden, verzichtete Deutschland denn auch darauf, die Auslieferung Öcalans aus Italien aufgrund eines bestehenden Haftbefehls zu beantragen. Für die PKK handelte es sich hierbei um die ersten Erfolge auf diplomatischem Gebiet und möglicherweise um ein Modell für zukünftige Kontakte mit der Türkei. "Militärs" und "Zivilisten" in der PKK Die Gruppe, aus der sich später die PKK entwickeln sollte, entstand Mitte der 70er Jahre zunächst im studentischen Milieu Ankaras; später wurden aber bevorzugt Mitglieder aus den unteren ländlichen Schichten Kurdistans rekrutiert. Die Gruppe nahm eine anti-intellektuelle Haltung ein und sprach sich auch gegen formale Ausbildung aus, da sie Schulen als Teil des türkischen kolonialen Systems ansah. Nach dem Beginn des Guerillakrieges gegen den türkischen Staat nahm die PKK viele junge Dorfbewohner mit nur geringer Schulbildung in ihre Reihen auf, für die das Leben als Guerillero in den Bergen die einzige Ausbildung war, die sie jemals erhalten sollten. Eine vollkommen andere Gruppe, die ich als "zivile PKK" bezeichnen möchte, besteht aus Unterstützern mit höherer Schulbildung, die sich der PKK nach deren ersten militärischen Erfolgen anschlossen und zum großen Teil vorher in anderen kurdischen oder türkischen Linksparteien aktiv gewesen waren. Hinsichtlich ihrer kulturellen und diplomatischen Aktivitäten (Veröffentlichung zahlreicher Zeitungen, Zeitschriften und Websites in verschiedenen Sprachen; Organisation der Unterstützerkomitees in Europa, Satelliten-TV etc.) wurde die PKK mit der Zeit in erheblichem Maße von diesen "Zivilisten" abhängig. Wenngleich von außen nicht immer erkennbar, steht hinter beiden Gruppen die Parteiorganisation mit parallelen Strukturen für die Guerilla, ARGK, und die politische Organisation, ERNK. Die ERNK, deren Mitglieder in der Mehrheit seit den 70er Jahren der PKK angehören, ist extrem zentralisiert und ausschließlich dem Zentralkomitee (was gleichbedeutend mit Öcalan ist) verantwortlich. In der Regel waren sowohl die Guerillaeinheiten als auch die "politischen" oder "zivilen" Organisationen und Unterstützergruppen weitgehend autonom und nur an sehr allgemeine Weisungen gebunden. Aber jegliche von ihnen getroffene Entscheidung konnte jederzeit von "der Führung" (önderlik, eine abstrakte Bezeichnung für Öcalan, die das vertrautere "Apo" im Sprachgebrauch der Partei ersetzte) annulliert werden. Die "militärischen" und "zivilen" Flügel der PKK haben offensichtlich verschiedene Ansichten über den Nutzen von Verhandlungen und Zugeständnissen. Öcalans Bemühungen der letzten Jahre, die PKK-Strategie zu ändern, machten einen Balanceakt notwendig, der beide Flügel zufriedenstellte. Die häufigen Ungereimtheiten in seinen öffentlichen Aussagen (Androhung von Gewalt einerseits und Versprechungen, den Guerillakampf zu beenden, andererseits) sind zumindest teilweise vor diesem Hintergrund zu betrachten. Fortschritte in Richtung auf eine politische Lösung setzten eine aktive Beteiligung "der Zivilisten" voraus, bargen aber das Risiko in sich, daß "die Militärs" sich marginalisiert fühlten. Nicht zuletzt auch wegen des Umstandes, daß Letztere auch die einzige Bedrohung für Öcalans Machtstellung darstellten, mußte er sie unbedingt unter Kontrolle halten. So war es auch keine Überraschung, daß es in den 90er Jahren eine Reihe von Säuberungen in der militärischen Organisation gab; die Rivalitäten zwischen einzelnen Kommandanten versuchte Öcalan für sich zu nutzen. Bezeichnenderweise begab sich Öcalan, als er Syrien verließ, nicht zu seiner Guerilla in Irak, sondern nach Westeuropa, wo die "zivilen" Strukturen seiner Partei am besten ausgebildet waren. Nachdem er ausschließlich in den politischen Milieus der Türkei und Syriens gelebt hatte, hatte er womöglich falsche Vorstellungen über das, was ihn in Europa erwartete, und verbarg auch keineswegs seine Enttäuschung darüber, daß die europäische Organisation seine politische Zukunft dort schlecht vorbereitet hatte. Er bezeugte sogar seine Bereitschaft, sich vor einem internationalen Gericht zu verantworten; ähnlich wie seinerzeit Dimitrov im Reichstagsbrandprozeß die Nazis angeklagt hatte, plante er, das Verfahren als Anklageforum gegen die türkische Politik zu nutzen. Öcalans Anwesenheit in Europa mobilisierte die kurdische Gemeinschaft in Europa, die nun die unverhoffte Möglichkeit einer neuen Strategie mit Europa als Vermittler, aber auch die Chance zu einer inneren Demokratisierung der kurdischen Bewegung sah. Auch Öcalans Gefangennahme brachte Bewegung in die PKK, deren Militärflügel nun die Führungsrolle übernommen zu haben scheint. Die Vorhersage türkischer Anti-Aufruhrspezialisten, die PKK werde in eine Vielzahl miteinander konkurrierender Militärfraktionen zerfallen, stellte sich als falsch heraus. Ein in Kurdistan abgehaltener außerordentlicher Parteikongreß ernannte keinen Nachfolger für Öcalan, sondern bestätigte ihn vielmehr als unsterblichen ewigen Parteiführer. Die europäischen Repräsentanten der Partei wurden getadelt und, wie es scheint, auch dafür bestraft, daß sie Öcalans Gefangennahme nicht verhindert hatten. Obgleich in Parteiveröffentlichungen jetzt Öcalans Bruder Osman in den Vordergrund gestellt wird, der seit 1990 die Partei in Iran führt, hat aber offensichtlich Cemil Bayik, lange Zeit der Militärchef, jetzt das Sagen. Er ordnete unmittelbar nach Öcalans Festnahme die Wiederaufnahme des Guerillakampfes an, obgleich Öcalan über seine Anwälte dazu aufrief, sich von der Gewalt loszusagen. Die Kurden, die Türkei und Europa Kurzfristig wird die Remilitarisierung der PKK einer politischen Lösung im Wege stehen. Der jüngste Wahlsieg der ultranationalistischen Parteien in der Türkei läßt es unwahrscheinlich erscheinen, daß in naher Zukunft den Kurden irgendwelche Zugeständnisse gemacht werden. Zwar konnte die HADEP in einigen Städten als stärkste Partei hervorgehen, doch konnte sie wegen der insgesamt nicht erreichten 10-Prozent-Hürde keinen Sitz im Parlament erringen. Wie in den 90er Jahren sind die in Europa lebenden Kurden noch am ehesten in der Lage, langfristig auf die Entwicklung in der Türkei einzuwirken. Die jüngsten Ereignisse haben jedoch das Vertrauen der Kurden in Europa erheblich erschüttert. Der um Kosovo geführte Krieg der Nato hat nicht nur die Ereignisse in der Türkei und in Kurdistan aus den Medien verdrängt, sondern wird auch als eindeutiges Zeichen dafür verstanden, daß Europa verschiedene Maßstäbe anlegt. Während Europa in Kosovo als klarer Alliierter der Kosovo-Befreiungsarmee UCK agiert, ließ es zu, daß Öcalan in die Hände der Türkei fiel und daß die Türkei die Schließung des über Satelliten ausgestrahlten kurdischen TV-Senders MED-TV erreichen konnte. Obgleich die britische Kontrollbehörde ITC (Independent Television Commission) rein formale Gründe für ihre Entscheidung anführte, wurde diese doch weitgehend als Zurückweichen vor türkischem Druck angesehen. Der Prozeß gegen Öcalan könnte durchaus einen Keil zwischen die Türkei und Europa treiben. Man wird sich in Europa das türkische Justizsystem genau anschauen, und der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat bereits verlangt, daß Öcalan sich ungehindert mit seinen türkischen und internationalen Anwälten beraten könne und vor einem unabhängigen Gericht angeklagt werde. Bereits früher hatte der Menschenrechtsgerichtshof festgestellt, daß die türkischen Staatssicherheitsgerichte nicht unabhängig seien und deswegen auch einige der von diesen verhängten Urteile zurückgewiesen. Die türkischen Behörden wiesen aber die Forderungen zurück und kündigten obendrein an, daß bei Öcalans Prozeß keine ausländischen Beobachter zugelassen würden. Somit scheint die Türkei auf einen Kollisionskurs mit Europa zuzusteuern. Andererseits plädieren kühlere Köpfe in der Türkei für ernsthafte Gesetzes- und Justizreformen, um der andauernden europäischen Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sollten sich diese Leute durchsetzen (was aber sehr stark von der europäischen Haltung gegenüber der Türkei abhängen wird), könnte Öcalan ungewollt zu einer Liberalisierung des rechtlichen und politischen Systems in der Türkei beitragen. Aber daß es dazu wirklich kommen wird, ist dann doch vielleicht eine etwas zu optimistische Annahme. Übersetzung aus dem Englischen: Hans Günter Lobmeyer.