Berliner Zeitung, 14.7. Demokratie statt Apathie Das Comeback des türkischen Kinos mit politischen Themen und Träumen vom großen Glück von R. Rust Die Geschichte des Ottomanischen Reiches, das einst halb Europa beherrschte, werde gern glorifiziert, während über Gegenwart und jüngere Vergangenheit der modernen Türkei mit Vorliebe geschwiegen werde, stellte jüngst der 38jährige Filmemacher Reis Çelik fest - und nannte zugleich beim Namen, was den öffentlichen Diskurs so notwendig macht: Ohne historisches Bewußtsein drohe die nach wie vor instabile Nation in Apathie zu versinken und sei auf ihrem Wege zur Demokratisierung jeglicher Manipulation ausgeliefert. Gewissen der Gesellschaft Der mutige Regisseur zählt zu jener jüngeren Generation von Filmkünstlern, die gleichsam als Gewissen der Gesellschaft das in Selbstgenügsamkeit versunkene türkische Kino seit geraumer Zeit wachrüttelt. Kontroversen löste der in Ostanatolien gebürtige Çelik bereits mit seinem vor zwei Jahren entstandenen Debüt "Isiklar Sönmesin" ("Es werde Licht") aus, das sich um fairen Ausgleich zwischen türkischer Armee und kurdischen Separatisten bemüht. "Hosçakal Yarin" ("Goodbye Tomorrow"), sein jüngster Film, bricht nun ein Tabu, das vor ihm noch kein Filmemacher seines Landes anzutasten wagte: Im Prozeß um den 1972 hingerichteten Studentenführer Deniz Gezmis wird die damalige Militärjunta an den Pranger gestellt - Parallelen zum Gerichtsprozeß gegen den Kurdenführer Abdullah Öcalan sind nicht von der Hand zu weisen. Unter Einbeziehung von Archivmaterial rekonstruiert der Film das Verfahren am Militärgerichtshof, das für den "verfassungsfeindlichen Terroristen" von vornherein das Todesurteil vorsah. Verständlicherweise war es außerordentlich schwierig, lokale Finanziers für das Projekt zu finden, das schließlich - wie inzwischen die Mehrzahl der türkischen Filme - mit Geldern der Brüsseler Filmförderung "Eurimage" realisiert werden konnte. Aus anderer Perspektive beleuchtet die bis heute verschleierten Vorgänge Turgut Yasalar, ebenfalls aus der mittlerweile tonangebenden Generation von Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre geborenen Filmemachern. In seinem psychologischen Thriller "Leoparin Kuyrugu" ("Leopardenschwanz") legt der Debütant den Akzent auf die Zeit vor der Gefangennahme der aufrührerischen Anarchisten. Den charismatischen Studentenführer stellt er in eine Gruppe Gleichgesinnter bei der letztlich gescheiterten Geiselnahme eines US-Soldaten. Den linksrevolutionären Studenten erscheint als Vorläufer ihres Idols Che Guevara gar Staatsgründer Atatürk, der gegen Ende seines Lebens beabsichtigt haben soll, die Regierungsgeschäfte gegen den aktiven Kampf im strittigen Grenzgebiet zu Syrien aufzugeben. Teilung als Komödie In jenen entlegenen Südosten führt mit "Propaganda" ein weiterer auf authentischen Vorgängen basierender Film. Inmitten der Wüste soll ein Zollvorsteher - als Vorlage diente Regisseur Sinan Çetin der eigene Vater - Grenzanlagen errichten. Da dieses Bollwerk (in Anspielung auf die damalige Teilung Berlins) die weit und breit einzige Siedlung willkürlich in zwei Hälften teilt, ist der Boden für eine konfliktgeladene Komödie bereitet, denn Freunde und Familien, Kulturen und Sprachen werden auseinandergerissen. Natürlich siegt in diesem prallen Volksstück der gesunde Menschenverstand über absurde Vorschriften - auch als Gleichnis auf heutige Mißstände mit ebenso fragwürdigen Grenzziehungen. Diese derzeit erfolgreichste türkische Filmsatire brachte es - dank der Publikumsmagneten Kemal Sunal und Metin Akpinar sowie dem Soundtrack des Popstars Sezen Aksu - in den ersten sieben Wochen nach Kinostart auf mehr als eine Million Zuschauer. Damit kann Çetin an den Erfolg von "Berlin in Berlin" (1993) anknüpfen, den bis dahin umsatzstärksten einheimischen Film. Nach der jahrelangen Durststrecke von Autorenfilmen nach (west-)europäischem Muster feiern einheimische Produktionen in jüngster Zeit ein beachtliches Comeback. Zu der gegenwärtigen Welle an Erfolgsfilmen, die nach den Triumphen des "Vesilcam"-Kommerzkinos der 60er und 70er Jahre kaum mehr für möglich gehalten wurden, zählt in dieser Saison auch "Her sey çok güzel olocak" ("Alles wird gut"). Mit dieser im heutigen Istanbul angesiedelten Komödie kann Ömer Vargi in seinem ersten Spielfilm unter eigener Regie an die gemeinsam mit seiner Frau Mine produzierte Gangsterballade "Eskiya" ("Der Bandit") anknüpfen, die im Vorjahr auch das deutsche Publikum begeisterte. Wieder im Milieu der "kleinen Leute" von Beyoglu gerät ein ungleiches Brüderpaar in die Fänge der Drogenmafia. Zwar müssen die sympathischen Loser am Ende des turbulenten Geschehens froh sein, mit heiler Haut davonzukommen, doch ihren Optimismus lassen sie sich nicht rauben. Von menschlicher Bewährung und Würde trotz unerfüllter Hoffnungen und Träume erzählt gleichfalls der im wild wuchernden Moloch der Großstadt spielende Film "Günese Yolculuk" ("Reise zur Sonne") der jungen Regisseurin Yesim Ustaoglu. Die auf der diesjährigen Berlinale preisgekrönte poetische Schilderung der Freundschaft eines türkischen Jungen zu einem Kurden wurde auch auf dem Filmfestival von Istanbul für den besten türkischen Film und die beste Regie ausgezeichnet. Die mit Spannung erwartete Premiere im eigenen Land für den von Aufführungsverbot bedrohten Film ist dem Prestige des weltoffenen Festivals zu verdanken, das sein Programm dem Zugriff der Zensur zu entziehen vermag. Nachwachsendes Potential Vom kreativen Potential einer nachwachsenden Generation zeugt als jüngstes Beispiel "Gemide" ("An Bord") von Serdar Akar. Vier Freunde und eine fremde Frau sind an Bord eines kleinen Kutters Gefangene verborgener Zwietracht und angestauter Emotionen - die, einmal enthemmt, das symbolhafte Beziehungsgeflecht aus der Balance werfen. Dieses Low-Budget-Debüt wird zusammen mit "Harem Square", dem neuen Film von "Hamam"-Regisseur Ferzan Özpetek, die revitalisierte türkische Filmszene im offiziellen Programm der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes vertreten. Die auf nur ein Dutzend Spielfilme pro Jahr geschrumpfte türkische Filmproduktion braucht den internationalen Vergleich nicht zu scheuen. Gleichsam als Gewissen der Gesellschaft rüttelt nun eine Generation von Filmkünstlern das in Selbstgenügsamkeit versunkene türkische Kino wach.
|