Aus: Sozialismus, Heft 7/8 (Juli/August 1999), 26. Jg., S. 54f. Politischer Prozeß als Waffe von Norman Paech Die Türkei hat die europäischen Staaten nur für kurze Zeit von ihrer kurdischen Hypothek entlastet. Ob sie diese zwei Monate seit der Entführung des PKK-Führers genutzt haben, sich von ihrem Öcalan-Schock zu befreien, ist fraglich, denn sie waren während dieser Zeit ausschließlich mit ihrem Krieg in Jugoslawien beschäftigt. Nun ist dieser beendet, aber auch das Todesurteil liegt vor - und die NATO-Staaten werden gefragt, was sie aus ihrem Krieg für Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht für ihr eigenes Lager gelernt haben. So manche Regierung hätte ein »lebenslängliches« Urteil zweifellos schon deswegen vorgezogen, weil man dann den »Fall Öcalan« getrost zu den Akten hätte legen können. Ein Todesurteil aber dramatisiert die Situation und erweitert die Verantwortung der europäischen Staaten unübersehbar. Denn es geht ja nicht nur um die Verhinderung der Exekution eines Mannes, sondern um den Stop eines Krieges und die Sicherung unzähliger Menschenleben in dem Mitgliedsland Türkei. Eher als erwartet, sind bereits weltweit Lehren aus der »humanitären Intervention« der NATO gezogen worden, die auch hierzulande frühzeitig prophezeit worden sind. Die chinesische Zeitung Ming Bao formulierte Anfang Mai zweifellos nicht nur für sich selbst, daß »die wichtigste Lehre aus den NATO-Bombadierungen Jugoslawiens ist, daß kleine und mittelgroße Länder Nuklearwaffen zur Selbstverteidigung besitzen müesen. Hätte Jugoslawien über Nuklearwaffen und Mittelstreckenraketen verfügt, wäre die NATO nicht so kühn gewesen, Gewalt einzusetzen. Man kann annehmen, daß viele mittelgroße und kleine Länder im Gefolge des Zwischenfalls danach streben werden, Nuklearwaffen zu entwickeln.« (1) Diese Entscheidung ist in Israel schon lange gefallen, aber die jüngste Bombardierung von Elektrizitätsanlagen in der Nähe Beiruts trägt zweifellos den Referenzstempel der NATO. Derartige Anlagen gehören nach den Genfer Regeln nicht zu den zulässigen Kriegszielen, aber die NATO hat es gerade vorgemacht, wie sie zu vernachlässigen sind. Welches ist nun die dritte Lehre? Etwa die, daß Selbstbestimmungs- und Menschenrechte tatsächlich hinter dem Balkan aufhören, eine für die Europäische Union verpflichtende politische Aufgabe zu sein? Daß die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte als eben doch europäisches Projekt vor allem die Säuberung des europäischen Hauses fordert. Alles weitere steht unter dem Vorbehalt der politischen Opportunität. Blicken war also noch einmal zurück auf den Prozeß. Der Europarat war die einzige internationale Institution, die eine durchgehende Erlaubnis zur Beobachtung des Prozesses auf der Insel Imrali hatte. Diese Möglichkeit wurde von einem zwölfköpfigen international zusammengesetzten Ad hoc-Komitee wahrgenommen. Noch liegt keine endgültige Einschätzung vor. Aber ein Zwischenbericht, der die Ersetzung des Militärrichters durch einen Zivilrichter begrüßte, wurde bereits in der Presse als endgültiges Rechtsstaat-Siegel interpretiert. In der Tat hatte der Ungar András Bársony von einem »Fairen Prozeß« gesprochen, was das Komitee allerdings am 23. Juni als dessen persönliche Meinung qualifizierte. Grundlage der Beurteilung ist Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, in dem der europäische Standard der unabdingbaren Prozeßrechte für ein faires Verfahren aufgelistet ist. Und das Ergebnis der Beobachtung wird vor allem davon abhängen, wie umfassend sich die Mitglieder über Umstände und Hintergründe des Prozesses informieren konnten und wollten. Von der staatlichen türkischen Seite scheint es da keine Einschränkungen gegeben zu haben, denn das Komitee bedankt sich schon in seinem Zwischenbericht für die weitgehenden Gesprächsmöglichkeiten und die Stellung von Dolmetschern. Allerdings verlangt Art. 6 auch ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung, was eine Kontaktaufnahme zu den Verteidigern wahrscheinlich besser geklärt hätte als das Gespräch mit der Regierung. Doch alle Versuche des Verteidigerteams, mit Mitgliedern des Komitees in Verbindung zu treten, wurden abgeblockt. Sie bekamen keine Gelegenheit, ihre zahlreichen Beschwerden vorzutragen: die Behinderung der Prozeßvorbereitung, die Entführung und Isolation des Angeklagten, die faktische Prozeßbeherrschung durch den Krisenstab beim Ministerpräsidenten, der prozessuale Leerlauf, die Vorverurteilung durch gezielte Prozeßinformationen an die Medien, die täglichen Drohungen und Einschüchterungen, die bereits vor Prozeßbeginn zum Rücktritt einiger Verteidiger geführt hatten, schließlich die totale Zwecklosigkeit ihrer Prozeßanträge. Das alles haben sie zwar in ihrem Schlußplädoyer von 350 Seiten dokumentiert, aber eine Prozeßbeobachtung hat sich nicht auf das Studium von Anklage und Verteidigungsschrift zu beschränken. Der einseitige Kontakt zu Regierung und Gericht ist mehr als ein grober Kunstfehler, er entwertet das Ergebnis entscheidend. Die Einschätzung des Europarats wird weit über ihn selbst hinaus Bedeutung haben, da sie die einzige ist, die sich auf eine kontinuierliche Beobachtung wird berufen können. Ihre mangelhafte Grundlage wird kaum bemerkt werden, da es nicht Sache der Medien ist, darauf aufmerksam zu machen. Sie haben allerdings im Gegensatz zu der bis dahin aggressiven und denunziatorischen Berichterstattung erstaunlich zurückhaltend, objektiv und gleichsam defensiv über alle Schlußplädoyers berichtet. Das mag zusammen mit dem Hinweis von Staatspräsident Demirel auf das sich anschließende Berufungsverfahren und das dann noch folgende Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof erste Zeichen für eine leichte politische Entspannung abgeben. Doch was hat das für einen Prognosewert, was allein aus der Unterbrechung der gewöhnlichen Beschimpfung einen sonst nicht zu begründenden Optimismus glaubt folgern zu können? Die Statistik des Menschenrechtsvereins (IHD) der Türkei vom April 1999 müßte definitiv die letzte dieser Art gewesen sein, um eine wirkliche politische Veränderung andeuten zu können: 7.078 Personen in Polizeigewahrsam, 86 Tote durch Sicherheitskräfte, 24 außergerichtliche Hinrichtungen und Tote nach Folter, 37 Polizeirazzien in Redaktionen, 21 Organisationsverbote etc. Und die Symbolik des 29. Juni, an dem das Todesurteil verkündet wurde, verweist eher auf eine gnadenlose Vollstreckung, wie sie auch schon zuvor von den Militärs gefordert worden war. Am 29. Juni 1925 war der Anführer des ersten großen Kurdenaufstandes, Scheich Said, zwei Jahre nach der Gründung der türkischen Republik in Diyarbakir öffentlich gehenkt worden. Binnen zwei Monaten hatte die türkische Armee den Aufstand niedergeschlagen. Über 15.000 Zivilisten waren getötet und mehr als 200 Dörfer zerstört worden, ganze Landstriche wurden entvölkert und ihre Bewohner nach Westanatolien zwangsumgesiedelt. Wie dem auch sei. Öcalan hat in seinem Schlußplädoyer noch einmal den politischen Charakter dieses Prozesses betont, dessen juristische Mittel vollkommen inadäquat gegenüber den gewaltigen Schwierigkeiten der Türkei zur Lösung des kurdischen Problems seien. Er hat - auch dies war nicht neu - Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch die PKK in ihrem Kampf um Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht eingeräumt, zugleich aber darauf verwiesen, daß derartige Verletzungen ungleich häufiger und gravierender durch die türkischen Streitkräfte vorgekommen seien. Er bestand auf der Legitimität der PKK und ihres Befreiungskampfes, wenn er auch eingestand, daß die bewaffnete Auseinandersetzung ab einem gewissen Punkt in eine Sackgasse geraten sei. Er habe seit Beginn der 90er Jahre nach einer politischen Lösung gesucht, und dies sei für ihn auch der Kern dieses Prozesses. Entweder entscheide sich die Türkei für die Fortsetzung des bewaffneten Konfliktes, was sie politisch, sozial, ökonomisch und kulturell in einen zunehmenden Zerfall wie seinerzeit Jugoslawien und Irak hineinziehen werde. Oder sie würde die Kurden für sich und in ihnen ein Potential für Demokratie, Entwicklung und Wachstum gewinnen. Nur, das alles interessierte das Gericht nicht, die Kurdische Frage, der mörderische Krieg standen nicht zur Debatte. Das Gericht ließ Öcalan ausreden und leerlaufen. Was manche seiner Beobachter während des Prozesses irritiert hat, war das völlige Fehlen des verbalen Angriffs gegen die türkische Kriegsführung, war der Verzicht auf die Auflistung der Greuel, Folter und Kriegsverbrechen des türkischen Militärs, war schließlich die Geringschätzung der juristischen Verteidigung, ja die Übernahme der Sprache des Gegners. Diese Haltung wird nur verständlich, wenn man sich klar macht, daß sein Adressat nicht das Gericht, sondern die Regierung in Ankara war. Sie hat nicht nur das Verfahren und dessen Ausgang bestimmt, sie wird über die Zukunft der kurdischen Frage entscheiden. Und nur um sie ging es ihm. Der Prozeß selbst hat die Überflüssigkeit der juristischen Verteidigung demonstriert. Sie blieb Staffage, notwendiges Dekor einer bürokratischen Abrechnung mit einem Feind, den man weder militärisch noch politisch besiegen konnte. Das Gericht stand unter der vollständigen Vormundschaft des Krisenstabes beim Ministerpräsidenten. Der Krisenstab, nicht das Gericht, entschied über die Isolationshaft des Angeklagten, über Zeitpunkt und Dauer der Gespräche der Verteidigung, die er zudem überwachte. Er wählte die Öffentlichkeit für den Prozeß aus und schloß schon im Vorfeld einen Anwalt von der Verteidigung aus. Kein einziger Antrag der Verteidigung während des Prozesses hatte die Chance, angenommen zu werden. Nun wird der Prozeß in die Berufung und dann vor das Europäische Gericht für Menschenrechte gehen, ehe das türkische Parlament über die Vollstreckung des Urteils entscheidet. Die europäischen Staaten haben also noch einige Monate Zeit, ihre Außenpolitik auf die neue Situation einzustellen. Dabei wird es nicht einmal so sehr um den Fall Öcalan gehen, sondern um die Zukunft der kurdischen Frage in der Türkei, die man schon zu lange vor sich hergeschoben und dem Militär überlassen hat. Es sind vielfach Vergleiche zwischen dem Kosovo und Kurdistan gezogen worden. Lassen wir einmal die Unvergleichlichkeit der Opfer außer Betracht, die in dem 15-jährigen Krieg in Kurdistan über 30.000 Tote, über drei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene und an die 4.000 zerstörte Ortschaften aufwei- sen. Beschränken wir uns auf die gesinnungspazifistische Rhetorik und den moralischen Overkill, mit dem Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht von der Kriegführung in Jugoslawien zur legitimatorischen Säule der militärischen Exekution gemacht wurden. Allein diese Begründung setzt die europäischen Regierungen um den Preis ihrer Glaubwürdigkeit unter einen selbstverfügten Druck, endlich auch bei ihrem NATO-Partner Türkei auf eine Beendigung des Krieges und eine politische Lösung des Kurdenkonfliktes hinzuarbeiten. Offensichtlich sind die Kurden und ihr Führer Öcalan erst jetzt wirklich in Europa angekommen. (1) Ming Bao v. 10.5.1999. In: epd-Entwicklungspolitik 11/99, S. 55. Norman Paech ist Professor für öffentliches Recht und Völkerrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg.
|