Neue Züricher Zeitung 17.7.99 Neues Denken über die Osterweiterung der Nato Konzentration auf Südosteuropa nach dem Krieg in Kosovo? Von Lothar Rühl Der Krieg in Kosovo hat in Südosteuropa eine neue Lage geschaffen, die für die Nato- Osterweiterung Folgen zeitigt. Die konkrete Zusammenarbeit mit einigen Randstaaten hat ihre strategische Nützlichkeit erwiesen, die nun wohl als wichtigstes Kriterium der Zulassung zum Bündnis gelten wird. Der Krieg könnte damit zum Katalysator bei der Bearbeitung aller ungelösten Sicherheits- und Zuordnungsprobleme der atlantischen Europapolitik werden. Die atlantischen Verbündeten haben mit einer Überprüfung ihrer Konzeption «Stabilitätstransfer nach Osten» durch Bündnisöffnung begonnen. Die im Kosovo-Krieg entstandene neue Lage auf dem Balkan und das Vorhaben, mit einem «Pakt zur Stabilisierung Südosteuropas» regionale Sicherheit durch Kooperation zu organisieren, haben im Hauptquartier der Nato den Anstoss zu einem neuen Denken über die Osterweiterung gegeben. Nach dem Urteil hoher politischer Nato-Funktionäre hat die Frage, welche Länder in absehbarer Zukunft in das Bündnis aufgenommen werden sollen, eine neue psychologisch-politische Dimension angenommen. Bis zum Frühjahr 1999 herrschte in der Allianz, vor allem in Washington, das konservative Denken der Konsolidierung vor: Nach der Aufnahme der drei ostmitteleuropäischen Länder Polen, Tschechien und Ungarn soll die Nato sich zunächst einige Jahre Zeit lassen, bevor andere Kandidaten zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen eingeladen würden. Noch kein Zeitrahmen Der «Zeitrahmen» dafür soll noch nicht festgelegt werden. Aber die zur Allianz drängenden Länder sollen gemeinsam auf einem Konsultativforum, wie der Nordatlantikrat im April beschloss, in permanentem Kontakt mit der Nato bleiben. Sie sollen sich in einem Konsultationsprozess dem Bündnis, dessen Organisation und Militärstruktur annähern und die politischen Standards im Sinne der Aufnahmebedingungen, die die drei schon zugelassenen ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschaupakts erfüllen mussten, mit der Zeit übernehmen. Das im April beschlossene «membership action program» soll jetzt aktiviert werden. Der Annäherung sollen vor allem die mit allen Kandidaten und anderen Ländern vereinbarten Friedenspartnerschaften dienen, die zusammen einen Radkranz um die Radnabe Nato bilden, wobei jede bilaterale Partnerschaft eine Radspeiche darstellt. Die Ausgestaltung jeder einzelnen dieser Partnerschaften ist dem jeweiligen Programm und den Beziehungen zur Nato überlassen: für die einen nur aktive Mitwirkung an der internationalen Friedenssicherung im weiteren Europa in Nato- Regie wie in Bosnien und nun in Kosovo, für andere ein definitiver Ersatz für eine (nicht gewollte oder nicht konzedierte) Bündnismitgliedschaft (etwa Russland oder die zentralasiatischen OSZE-Länder), schliesslich für die vorausgewählten Beitrittskandidaten eine Bewährung im Vorhof der Nato mit Aussicht auf die Öffnung des Tors zur Bündnisfestung. Das «Vorrang-Verhältnis» zu Russland Die neuen Überlegungen in Brüssel kreisen um die Frage, ob dieser Prozess mit offenem Ende einer schrittweisen, letztlich aber von Washington gesteuerten Nato-Erweiterung auf Südosteuropa konzentriert und für die Länder der Balkan- Donau-Region beschleunigt werden soll. Schon im April war in Washington die neue Formel «19+7» für eine besondere sicherheitspolitische Konsultation über Krisenbeherrschung und Friedenskonsolidierung mit sieben Nachbarn des ehemaligen Jugoslawien vereinbart worden. Fünf dieser sieben Länder sind Mitglieder des 1997 geschaffenen «Euro-Atlantischen Partnerschaftsrates», der als «Radkranz» um die Nato figuriert, aber bisher keine besondere politische Bedeutung gewonnen hat. Dies einerseits, weil die erste Osterweiterung der Nato und die Balkanpolitik die Energien voll in Anspruch nehmen, anderseits das Verhältnis zu Russland mit dem gemeinsamen Nato-Russland-Rat über allen anderen Beziehungen steht. Auch die zweite Sonderbeziehung, die der Nato zur Ukraine, eine unausweichliche Folge des politisch privilegierten Vorrang-Verhältnisses zu Russland, zieht die Aufmerksamkeit in Brüssel auf sich und lenkt vom Gros der gewöhnlichen Partnerschaften ab. Unter diesen stechen wiederum einige als besonders wichtig hervor: etwa diejenige mit den drei baltischen Staaten. Diese wurden von Washington mit der «Baltischen Charta» als einem besonderen Gütesiegel ihrer Bedeutung für Amerika (allerdings ohne eine reale Sicherheitsgarantie im Notfall) bedacht, weil ihre Kandidaturen für die Nato-Mitgliedschaft mit Rücksicht auf Moskau nicht oder noch nicht honoriert werden konnten. Eine weitere Partnerschaft ist diejenige mit den EU-Mitgliedern Österreich, Schweden, Finnland und Irland, die im Prinzip künftig an der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU teilnehmen werden, aber bisher nicht Mitglieder der WEU und der Nato sind (und dies vorderhand auch nicht werden wollen). Schliesslich das Verhältnis zu den Donau- und Balkanländern ausserhalb der Allianz, die nun im April 1999 in Washington als «Gruppe 7» für eine besondere Zusammenarbeit mit der Nato zusammengefasst und so als eine besondere regionale Partnerschaft ausgewählt wurden. Damit ist die politische Konzeption der Nato- Osterweiterung ebenso weiter differenziert und im Kern verändert wie die Nato-Strategie des Stabilitätstransfers nach Osten und im Mittelmeerraum. Die strategische Nützlichkeit der Beitrittskandidaten für die Nato-Sicherheitspolitik zur Krisenbeherrschung und Konfliktbeendigung hat sich im Kosovo-Krieg deutlich als erste Priorität und Kriterium der Zulassung zum Bündnis vor alle anderen politischen Erfordernisse geschoben. Zwar bleibt die Sicherheitslage und damit die objektive Schutzbedürftigkeit jedes einzelnen Landes ausserhalb der Allianz in Europa neben der Fähigkeit, die Bündnispflichten zu erfüllen, und der Vereinbarkeit seiner inneren Ordnung und auswärtigen Politik mit den Werten und Zielen des Bündnisses im ersten Rang der Kriterien. Bulgarien, Rumänien, Mazedonien Die strategische Bedeutung Bulgariens, Rumäniens und Mazedoniens ist während des Krieges der Allianz vor Augen geführt worden. Dies betraf vor allem die Kontrolle des Luftraumes und den Lufttransport, aber auch die Kriegführung gegen Serbien, die auf die Benutzung des Luftraums dieser drei Länder sowie des Bündnispartners Ungarn angewiesen war. Dies gilt auch für Albanien, wo die für einen Einsatz in Kosovo bereitgehaltenen 24 amerikanischen Apache- Kampfhelikopter und alliierte Truppen stationiert wurden und für die Dauer der Kfor-Präsenz in Kosovo auch bleiben werden. Damit ist die Frage einer weiteren Öffnung der Allianz für neue Mitglieder in Europa aus der höheren Sphäre abstrakter politischer Prinzipien und Ideale im Sinne einer gesamteuropäischen Friedensordnung mit einer Sicherheitsarchitektur auf den Boden der Tatsachen geholt worden. Das Nato-Projekt Osterweiterung wird damit definitiv zu einer Operation der Realpolitik, das heisst der Kunst des Möglichen für Interessenausgleich und für gegenseitige Unterstützung zum beiderseitigen Vorteil. Zu diesem Zweck stellten Rumänien und Bulgarien wie auch der neue Nato-Partner Ungarn ihren Luftraum zur Verfügung. Bulgarien nahm sogar die Irrläufer der alliierten Luftangriffe mit Bomben und Raketeneinschlägen auf eigenem Boden als notwendiges Übel in Kauf. Anderseits bot Bulgarien auch der Regierung in Belgrad und privaten serbischen Interessen einen sorgfältig überwachten, aber offenen Grenzübergang im Kriege an. Mazedonien und Albanien kooperierten mit der Nato als unmittelbar gefährdete Nachbarn Kosovos wie natürlich auch das von der Sfor besetzte und geschützte Bosnien-Herzegowina. Alle diese Länder fanden sich nach dem 24. März de facto als Randgebiete im Kriegslager der atlantischen Allianz und liegen seither in der strategischen Interessensphäre der Nato. Albanien und Mazedonien sowie Bosnien und das noch zu Jugoslawien gehörende Montenegro verfügen sogar über reale Sicherheitsgarantien, gegen serbische Angriffe militärisch verteidigt zu werden, und befinden sich im markierten Schutzbereich. Kosovo als Katalysator? Aus dieser neuen Lage, die durch die innere Krise Serbiens ergänzt wird, ergeben sich für die Nato-Politik wie für die zivile und ökonomisch fundierte EU-Politik mehrere Konsequenzen und Optionen. So hat der Kosovo-Krieg der Nato sich weit über seinen ursprünglichen Einsatz hinaus zum aktuellen Katalysator der Verbindung aller ungelösten Sicherheits- und Zuordnungsprobleme der atlantischen Europapolitik herausgebildet. Seine Folgen in Südosteuropa werden sich nicht eindämmen lassen. Sie werden auf Nordosteuropa wie auf das Verhältnis zur verbündeten Türkei einwirken und wohl den bereits beginnenden begrenzten politischen Konflikt mit dem externen Sicherheitspartner Russland akzentuieren. Eine Nato-Mitgliedschaft wird darum mehr und mehr zum konkreten Mass für Sicherheit in Europa werden, die Nato-Erweiterung zur riskanten Herausforderung von Zusammenhalt und Handlungsfähigkeit des Bündnisses - das sich seit 1995 in Bosnien und in Kosovo bei allen Einschränkungen doch als tragfähig erwiesen hat. Konsequenzen und Optionen 1. Die sieben Nachbarn Jugoslawiens, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien, Rumänien, Slowenien (von denen Bosnien wie Kroatien noch nicht Mitglieder des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrates sind), müssen von der Nato im Sinne des Vorhabens «Stabilitätspakt Südosteuropa» für eine besondere politische Zusammenarbeit aufgewertet werden. Präsident Tudjman hat dies für Kroatien schon öffentlich gefordert und dabei als Finalität die Aufnahme seines Landes in EU und Nato bezeichnet. In einem Artikel verband er diesen Wunsch mit einer Warnung vor dem Versuch, «ein neues Jugoslawien, eine Balkan-Föderation oder etwas Ähnliches zu etablieren, in dem Kroatien sich in einer nebulösen West-Balkan- Region wiederfinden würde». Auf solche Ablehnung würde eine Neuauflage früherer Föderationspläne wohl in allen südosteuropäischen Ländern stossen, denn diese - heute ausser Serbien, aber schon nicht länger ausser Montenegro - streben zum Schutze ihrer nationalen Identität und politischen Unabhängigkeit in die Nato als Zuflucht und als Ausweis ihrer internationalen Gleichwertigkeit. Die Nato wird ihre Erweiterungspolitik in diesem Sinne neu orientieren, aber auch geographisch begrenzen müssen. Slowenien und die Slowakei müssen eingeschlossen, also aufgenommen werden. 2. Der interne Charakter der Nato als eines Systems kollektiver Sicherheit für ihre Mitglieder mit gemeinsamer Rüstungskontrolle in einem Rahmen der Militärkooperation für kollektive Verteidigung wird neu definiert, präzisiert und stärker ausgeprägt werden müssen, damit die Nato der dominante Stabilitätsfaktor für erweiterte Sicherheit auch über die Bündnisgrenzen hinaus sein und die Lage vor diesen Abgrenzungen zur Krisen- und Konfliktverhütung kontrollieren kann. 3. Die Aufnahme Bulgariens und Rumäniens, die sich nicht mehr länger verzögern lassen wird, bedeutet eine breite Öffnung der Nato in Südosteuropa zum Schwarzen Meer hin. Damit verbunden ist eine Erweiterung als territorial-maritime Allianz auf das zweite südliche Randmeer Europas mit einer strategisch-politischen Aufwertung der Türkei als Eckpfeiler in einer auf Südosteuropa und den Kaukasus bezogenen zentralen Position. Diese Erweiterung wird die gesamte Sicherheitspolitik gegenüber der Türkei wie gegenüber Russland, der Ukraine und dem Kaukasus, der näher als bisher an die Sphäre der euro-atlantischen Sicherheitsinteressen rückt, um eine neue strategische Ausrichtung bereichern und mit zusätzlichen Aufgaben belasten: Das Schwarze Meer wird zum Bindeglied und Russland entweder zum nahen Sicherheitspartner oder zum Konkurrenten und Opponenten in Südosteuropa. Die Schwierigkeiten mit Moskau bei der Festlegung der russischen Rolle in der Kfor und für eine uneingeschränkte Wiederaufnahme der vereinbarten Partnerschaft mit der Nato nach der Pariser Grundakte von 1997 dürften nur erste Vorwarnungen sein. 4. Die Beziehungen zur Ukraine müssen von der Nato wie von der EU politisch in schwieriger Lage und mit den Risiken künftiger Spannungen zwischen Moskau und Kiew aufgewertet und gestärkt werden, wenn Nato und EU eine konsistente Südosteuropa- und Schwarzmeerpolitik mit einer sinnvollen Haltung gegenüber Russland verbinden wollen. 5. Damit stellt sich auch die Frage nach den Beziehungen zum Baltikum und nach einer umfassenden Sicherheitskooperation im Ostseeraum, die Russland nicht ausschliessen, die aber auch die drei baltischen Staaten, die in die Nato streben, nicht auf Dauer vom Bündnis fernhalten kann. Dies wird früher oder später auch für Finnland gelten - andernfalls könnte die Nato in eine geopolitische Schieflage geraten. |