junge Welt 19.7.99

Nicht ganz frei

Zur Lage der Menschenrechte in der Türkei.

Von Gertrud Selzer (*)

Am 31. Mai begann die Hauptverhandlung gegen Abdullah Öcalan vor dem Staatssicherheitsgericht in Ankara und endete am 29. Juni 1999 wie erwartet mit der Verkündung des Todesurteils. Die Staatssicherheitsgerichte in der Türkei, vor denen alle politischen Verfahren stattfinden, sind selbst nach Meinung des Europäischen Parlamentes nicht unabhängig, da die Richter jahrelang vom Militär eingesetzt wurden. Auch wenn dies kurz vor Ende des Verfahrens gegen Abdullah Öcalan aufgrund internationaler Proteste geändert wurde, kann es nicht über die Dominanz des Militärs über die Justiz hinwegtäuschen. Die Haftbedingungen von Abdullah Öcalan, der seit seiner Entführung aus Kenia im Februar 1999 in Isolationshaft auf der Insel Imrali festgehalten wird, sowie Folter und Bedrohung seiner Anwälte lassen befürchten, daß die vom türkischen Staatsanwalt geforderte und vom Gericht ausgesprochene Todesstrafe auch vollstreckt wird. Zumindest muß aber davon ausgegangen werden, daß der türkische Staat Abdullah Öcalan als politische Geisel in seinen Händen behält, um damit Druck auf die verschiedenen Strömungen der PKK sowie die von ihr repräsentierten Kurden auszuüben.

Die Anwälte Öcalans wurden am 30. April bei der vorbereitenden Gerichtsanhörung für den Prozeß von Polizisten und Zuschauern geschlagen und getreten. Alle Rechtsanwälte wurden dabei verletzt. Einschüchterung und Verhinderung der Verteidigergespräche sind an der Tagesordnung. Die Aufrufe der Anwälte werden von den europäischen Regierungen genauso ignoriert wie die ungeheure Zahl der Menschenrechtsverletzungen in den letzen Jahren in der Türkei. Über 3 500 zerstörte Dörfer, zwei Millionen Kurden auf der Flucht, über 600 Verschwundene, ermordete Journalisten - um nur einige der Zahlen zu nennen.

In einem Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes zur aktuellen Lageentwicklung in der Türkei nach der Festnahme Öcalans vom 25. Februar 1999 heißt es (bisher ohne Konsequenzen für die bundesdeutsche Abschiebepolitik), »die innenpolitische Lage in der Türkei (ist) nicht einfacher geworden«. Eine mehr als sanfte Umschreibung für die tatsächlichen Zustände in der Türkei.

Herrschaft des Revolvers

Akin Birdal, der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins (IHD), sagte kurz nach einem Mordanschlag auf ihn, den er nur knapp überlebte, im Mai 1998: »Die Gewalt ist zu einer dominierenden Erscheinung in der türkischen Gesellschaft geworden. Die Herrschaft der Demokratie und des Gesetzes ist durch die Herrschaft des Revolvers und der rohen Gewalt ersetzt.« Schon damals gab es in den türkischen staatsnahen Medien eine Hetzkampagne gegen demokratische Organisationen und Menschenrechtler, die sich für ein Ende des Krieges und für eine friedliche politische Lösung des Kurdistan-Konfliktes einsetzen, wie z. B. der Menschenrechtsverein IHD, die prokurdische Partei HADEP oder auch die Samstagsmütter in Istanbul.

Diese Hetzkampagne hat nichts von ihrer Schärfe verloren. Im Gegenteil, sie wurde noch weiter angeheizt durch staatliche Stellen und durch die Ergebnisse der Wahlen vom 18. April, bei denen die Grauen Wölfe (MHP, Nationale Volkspartei) zweitstärkste Partei (18 Prozent) wurden und sich zukünftig auch an der Regierung beteiligen werden. Die Grauen Wölfe, die teilweise auch der sogenannten Konterguerilla angehören, sind für eine Vielzahl von Morden an Sozialisten, Gewerkschaftern, Studenten und Kurden verantwortlich.

Akin Birdal trat am 6. Juni eine einjährige Haftstrafe an, zu der er im Juli 1998 wegen »Separatismus« nach Artikel 312 Absatz 2 des türkischen Strafgesetzbuches verurteilt wurde. Unter den Verdacht des »Separatismus« gerät, wer in der Türkei über eine Kurdistan-Frage spricht (offiziell wird nur von einem Terrorismusproblem gesprochen) und für eine politische Lösung statt einer militärischen plädiert. Birdal ist einer von vielen unliebsamen Menschenrechtlern und Journalisten, die in der Türkei wegen »Separatismus« verurteilt in den Gefängnissen sitzen. Deshalb startete der IHD im Juni dieses Jahres eine Kampagne für die Meinungsfreiheit und eine weitere Kampagne zur Abschaffung der Todesstrafe.

Die Samstagsmütter, die seit Mai 1995 jeden Samstag regelmäßig gegen das »Verschwinden« ihrer Angehörigen demonstrierten, mußten ihre Aktionen im März dieses Jahres vorläufig einstellen. Immer wieder wurden ihre Demonstrationen von Polizei und Sicherheitskräften auseinandergetrieben, die Frauen geschlagen und festgenommen. Inzwischen ist die Bedrohung so massiv, daß sie nicht mehr auf die Straße gehen können. Die Frauen, die 1996 den Menschenrechtspreis der Internationalen Liga für Menschenrechte erhielten, sagen ähnlich wie die Madres der Plaza de Mayo in Argentinien im Hinblick auf ihre verschwundenen Angehörigen: »Lebend habt ihr sie uns genommen - lebend wollen wir sie zurück«. Seit 1980 sind in der Türkei über 600 Personen, die sich im Polizeigewahrsam befanden, ums Leben gekommen oder einfach verschwunden. Fast nie kommt es dabei zu Strafverfahren gegen die Sicherheitskräfte.

Linke oppositionelle Parteien sind in der Türkei unerwünscht, das läßt sich gut am Vorgehen des Staates gegen die prokurdische Partei HADEP erkennen. Zwischen Februar und April 1999 wurden fünf Mitglieder des Hauptvorstandes, 30 Provinzvorsitzende und Funktionäre, 35 Bezirksvorsitzende und 4031 Mitglieder der Demokratischen Volkspartei HADEP verhaftet, darüber hinaus noch zahlreiche Kandidaten für die Parlaments- und Kommunalwahl. Cafer Demir, Vorsitzender des Menschenrechtsvereins in der Provinz Elazig, bezeichnete die Wahlen als »nicht ganz frei, aber auch nicht völlig manipuliert«. Viele Kundgebungen und Demonstrationen der HADEP wurden verboten, alle ausländischen Wahlbeobachter wurden behindert, es gab Wahlmanipulationen, Vertriebene sind in der Regel nicht in Wählerverzeichnisse eingetragen, viele Stimmen mußten offen abgegeben werden. Trotzdem hatte die HADEP in den kurdischen Gebieten große Wahlerfolge und stellt die Bürgermeister der Städte Batman, Bingöl, Hakkari, Siirt, Sirnak und der Regionalhauptstadt Diyarbakir. Gegen sie läuft aber noch ein Verbotsverfahren. Die HADEP wäre nicht die erste kurdische Partei, die verboten würde, auch hier dient der Vorwurf des Separatismus als Begründung.

BRD-Türkei-Connection

Die Lage der kurdischen Inlandsflüchtlinge, die im Westen der Türkei in provisorischen Zeltstädten und »Über-Nacht-gebauten- Häusern« (Geçekondus) zu überleben versuchen, läßt den Begriff »inländische Fluchtalternative« nur noch zynisch erscheinen. Sicherheitskräfte und Graue Wölfe überfallen die Siedlungen und zerschlagen das Wenige, was sich die Menschen wieder aufbauen konnten. Etwa zehn Millionen Menschen leben in der Türkei an der Grenze zum Verhungern. Die Fotos von den kurdischen Elendsvierteln, den Geçekondus, sprechen für sich.

Der Krieg in Kurdistan hat von seiner Brutalität nichts verloren, und die türkische Armee ist mehrfach weit nach Irakisch-Kurdistan einmarschiert. Nach einer Erklärung der ARGK (militärischer Arm der PKK) von Mitte Mai 1999 setzte die türkische Armee Raketen mit chemischen Sprengköpfen gegen die Guerilla ein. Eine Aussage, die zum einen von Vertriebenen ebenfalls gemacht wird und zum anderen durch Beobachtungen vor Ort und Fotos aus dem Kriegsgebiet neue Nahrung erhält. Man braucht jedoch nicht nach Kurdistan zu fahren, um die Verfolgung der Kurden in der Türkei zu sehen. Ein Besuch in Ankara oder Istanbul reicht vollkommen. Der Krieg selbst wird zwar im Osten des Landes geführt, hat aber enorme Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Lebensbedingungen im Westen der Türkei.

Und hier korrespondiert die Politik der europäischen Staaten wie der rot-grünen Bundesregierung mit den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei: Kurz vor den Wahlen in der Türkei wurde der kurdische Sender MED-TV, der mit einer britischen Lizenz aus Brüssel sendete, auf Druck der türkischen Regierung verboten - dem NATO-Staat Türkei konnte man während der Luftangriffe auf Jugoslawien nur schwer seine Wünsche abschlagen bzw. ihn öffentlich kritisieren. So gibt es in der Bundesrepublik keinen Abschiebestopp für Kurden, keinen Stopp der Waffenlieferungen, kein Recht auf Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Gefolterte.

Während die Grünen in ihrer Oppositionszeit regelmäßig gut recherchierte Berichte über Folterungen abgeschobener Kurden veröffentlichten, betreiben sie heute keine grüne, sondern deutsche Außenpolitik (O-Ton Joseph Fischer) und liefern somit Kurden ihren Folterern aus. Eine politische Lösung der Kurdistan-Frage wird es nur geben, wenn es Antworten auf die Kernfragen des Konfliktes gibt. Entgegen der veröffentlichten Meinung der westlichen »Wertegemeinschaft«, die auch von kurdischer Seite manchmal kolportiert wird, geht es dabei nicht um einen kulturellen oder gar folkloristischen Konflikt. Kurdische Tänze könnte der türkische Staat jederzeit zulassen; die kurdische Sprache im begrenzten Rahmen auch.

Im Kern geht es um die Beteiligung an den politischen und materiellen Ressourcen des Landes. An Öl- und Wasservorkommen ist Kurdistan reich, ein Reichtum allerdings, der bisher seinen Bewohnern wenig gebracht hat und eher Begehrlichkeiten in Ankara weckte. Mit den beiden Flüssen Euphrat und Tigris verfügt Kurdistan in einer insgesamt wasserarmen Region über einen begehrten und konfliktträchtigen Rohstoff.

(*) Unsere Autorin ist Mitarbeiterin der AKTION 3. WELT Saar und des BUKO (Bundeskongreß entwicklungspolitischer Aktionsgruppen, Hamburg) und hielt sich in den vergangenen Jahren mehrfach in der Türkei sowie im kurdischen Gebiet auf.