Die Welt, 23.7. "Staatsfeinde haben kein Recht auf Menschenrechte" Amnesty beklagt mangelnden Reformwillen Ankaras Von Dietrich Alexander Berlin Der Wille, den Weg in Richtung Europa einzuschlagen, ist in der Türkei ungebrochen stark. Doch die Türken begegnen der Einmischung Europas in ihre inneren Angelegenheiten mit Unverständnis und Zorn. Insbesondere angesichts der Situation in den Gefängnissen des Nachbarn Griechenland reagiert Ankara gereizt, wenn Brüssel immer wieder die Lage der Menschenrechte und die Kurdenfrage auf die politische Tagesordnung setzt. Doch ohne eine befriedigende Lösung in diesen Fragen wird es keinen engen Dialog mit Europa geben, das haben europäische Politiker jeder Couleur den türkischen Regierungen klargemacht. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (ai) zeigt in fast ritueller Manier Jahr für Jahr diverse gravierende Verstöße in der Türkei gegen die Menschenrechte auf. "Es ändert sich nichts Grundsätzliches", sagt Helmut Oberdiek, ai-Türkeiexperte. "Die Gesetzesnovellierungen sind rein kosmetischer Natur. Es gibt keine grundsätzliche Reform, Strafprozesse bleiben unfair." Zwar seien die Zahlen der sogenannten "Verschwundenen" und Folteropfer in den vergangenen Jahren kontinuierlich zurückgegangen, doch rechtfertige dies nicht die staatliche Repression, die es immer noch gibt vor allem gegen Kurden und prokurdische Intellektuelle. Und das Entscheidende sei, so Oberdiek, daß die Verantwortlichen für Attentate und Folter nicht zur Verantwortung gezogen würden. "Grundsätzlich gilt die Haltung der Behörden: Staatsfeinde haben kein Recht auf Menschenrechte", meint Oberdiek. Mit diesem gedanklichen Freibrief könne auf jeder Polizeistation gefoltert werden. Die Erkenntnis müsse sich durchsetzen, daß die Türkei ihr Straf- und Justizsystem reformieren muß, weil es für das Volk gut ist und nicht weil Europa es so will. Doch davon, so Oberdiek, der selbst einmal 46 Stunden in einem türkischen Gefängnis auf seine Ausreise warten mußte, sei man auf allen türkischen Entscheidungsebenen weit entfernt. Solange es das berüchtigte "Anti-Terror-Gesetz" in der Türkei gibt, scheint ohnehin jeder tiefere Dialog über eine gegenseitige Annäherung sinnlos. Denn beinahe jede Äußerung in bezug auf Kurden kann unter Berufung auf Artikel 8 des Gesetzes ("separatistische Propaganda") verfolgt werden. Doch auch wenn dieser Artikel abgeschafft würde, blieben noch genug andere juristische Hebel übrig, gegen Regimekritiker vorzugehen, meint Oberdiek. Artikel 312 des türkischen Strafgesetzbuches zum Beispiel ("Loben einer Straftat", "Aufstachelung zum Rassenhaß") oder Artikel 7 des Anti-Terror-Gesetzes: "Propaganda für die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK".Prominente Justizfälle Im Mai 1998 überlebte der Bürgerrechtler und Chef der Türkischen Menschenrechtsvereinigung (IHD), Akin Birdal, nur knapp einen Mordanschlag. Anfang Juni dieses Jahres trat er eine zehnmonatige Haftstrafe wegen angeblich systemkritischer Äußerungen an. Wegen Anstiftung zu religiösem Haß wurde der Bürgermeister von Istanbul, Recep Tayyip Erdogan, zu zehn Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt, die er nun verbüßt. Erdogan gilt als einer der führenden Köpfe der islamisch-fundamentalistischen Bewegung in der Türkei. Er verlor mit der Verurteilung sein Amt sowie lebenslänglich das Recht, sich politisch zu betätigen. Hatip Dicle, Orhan Doga, Selim Sadak und Leyla Zana, frühere Parlamentsabgeordnete der prokurdischen Demokratischen Partei, verbüßen seit 1994 eine 15jährige Haftstrafe wegen angeblicher Mitgliedschaft in der PKK. Mehdi Zana, Ehemann von Leyla und ehemaliger Bürgermeister von Diyabakir, mußte 1994 für zwei Jahre "wegen separatistischer Propaganda" ins Gefängnis. Ayse Nur Zarakoglu, türkische Verlegerin, war dreimal im Gefängnis, weil sie mit den von ihr verlegten Büchern an politischen Tabus rüttelt. Fikret Baskaya, Universitätsdozent, mußte eine 20monatige Freiheitsstrafe ableisten, weil er in seinem Buch die Kurden als eigenständige ethnische Gruppe bezeichnete. al |