jw, 10.8. Türkei: Die Wut der Arbeiter ist groß 7 000 Bergarbeiter protestierten gegen den Mord an Semsi Denizer Rund 7 000 Menschen, darunter hauptsächlich Bergarbeiter, protestierten am Sonntag gegen den Mord an dem türkischen Gewerkschaftsführer Semsi Denizer. Die Beerdigungsfeier entwickelte sich zu einem lautstarken Protestmarsch, der vor dem Gewerkschaftshaus Genel Maden-Is endete. Während der Demonstration riefen die Bergarbeiter, »Denizer ist nicht gestorben, er lebt in unseren Herzen«, »Generalstreik wird kommen, Schiedsabkommen wird gehen«. Die Wut der Bergarbeiter richtet sich gegen eine Gesetzesvonlage, die die Grundlage für die Ratifizierung internationaler Schiedsabkommen bereiten soll. Letztere würde in bezug auf ausländische Investitionen das nationale türkische Recht außer Kraft setzen und Privatisierungen Tür und Tor öffnen. Der ermordete Gewerkschaftsführer Semsi Denizer betonte ausdrücklich, daß Bergarbeiter und Einwohner der Provinz Zonguldak gegen dieses Abkommen kämpfen werden. Semsi Denizer fiel in der Nacht zum Sonnabend einem Anschlag zum Opfer. Er war Generalsekretär des größten türkischen Gewerkschaftsdachverbandes Türk-Is und zugleich Vorsitzender der Bergarbeitergewerkschaft Genel Maden-Is. Der geständige Täter Cengiz Balik, der sich kurz nach der Tat der Polizei stellte, hatte dem Gewerkschafter vor dessen Haus in der Provinz Zonguldak aufgelauert und 14mal auf ihn gefeuert. In seinen ersten Aussagen machte er widersprüchliche Angaben zum Tatmotiv. So gab er zuerst an, durch die Tat Berühmtheit erlangen zu wollen. Später wollte er Schulden, die Denizer nicht beglichen haben soll, zum alleinigen Grund seiner Tat machen. Angesichts dessen läßt sich erahnen, daß hinter dem Mord andere Gründe stecken dürften als die, die in den offiziellen Erklärungen verlautbart wurden. Der Gouverneur der Provinz an der Schwarzmeerküste hatte am Sonntag auf einer Pressekonferenz erklärt, allem Anschein nach handele es sich bei dem Mord um ein gewöhnliches Kriminaldelikt. Er gab bekannt, daß eine zweite Person in Verbindung mit dem Mord festgenommen worden sei. Zu ihr wurde bisher nichts Näheres bekannt. Die Provinz Zonguldak, das »Ruhrgebiet« der Türkei, wurde in den letzten Jahren zum Schauplatz mafioser Geschäfte und Auseinandersetzungen. Im Zuge der Privatisierung von Zechen seit 1989 erlangten dubiose Unternehmer, denen Verbindung zur türkischen Unterwelt und zur faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) nachgesagt wird, immer mehr Einfluß. MHP-Schläger, besser bekannt unter den Namen »Graue Wölfe«, hatten sich in letzter Zeit in der Stadt aufgehalten und vermutlich von den privaten Minenbetreibern ihre Instruktionen eingeholt. Wenn man berücksichtigt, daß Gegner der Privatisierung, die sich für eine Rückführung der Minen in Staatseigentum einsetzten, von den MHP-Leuten bedroht und eingeschüchtert wurden, können die Erklärungen, hinter dem Mord steckten politische und wirtschaftliche Gründe, nicht als Spekulationen abgetan werden. Die von Denizer geführte Gewerkschaft Genel Maden-Is organisierte seit Jahren Kampagnen gegen die Privatisierung der Zechen. Die Stimmung zwischen den Betreibern und Gewerkschaftsvertretern ist nicht gerade als freundschaftlich zu bezeichnen. Der Mord kann damit durchaus als Einschüchterungsversuch gegen die Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung in der Türkei gesehen werden. Denn das Land erlebte in den letzten Wochen die größten Arbeiterproteste seiner Geschichte. Türk-Is gehörte der »Plattform der Arbeit« an, die mit 14 weiteren Gewerkschaften und Berufsverbänden die Protestaktionen organisiert. Die Aktionen richten sich gegen die geplante Anhebung den Rentenalters, eine weit unter der Inflationsrate liegende Gehaltserhöhung für Angestellte und Beamte sowie gegen eine Gesetzesvorlage, die die Grundlage für die Ratifizierung internationaler Schiedsabkommen bereiten soll. In der Protesterklärungen der Gewerkschaften, die nach dem Mord an Denizer veröffentlicht wurden, wurde auf die Rolle von Türk-Is und Denizer hingewiesen, die sie bei den Aktionen spielten. Nach Ansicht der Gewerkschaften ging es den Anstiftern zu diesem Auftragsmord eben darum, die erstarkte Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung zu schwächen. Der Vorsitzende der IG Metall, Klaus Zwickel, verurteilte am Montag in einer Solidaritätserklärung an Türk-Is »den feigen Mord« an Denizer. »Angesichts der laufenden Aktionen der türkischen Gewerkschaften gegen die Angriffe der Regierungskoalition auf die Errungenschaften der Gewerkschaften ist der Verlust eines führenden Gewerkschaftskollegen umso schmerzhafter«, so Zwickel. Sultan Özer, Zonguldak
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