Süddeutsche Zeitung 21.8.1999 "Größtes Unglück in der Geschichte des Landes" Helfer befürchten 40 000 Tote in der Türkei UN-Koordinator Piazzi: Wahrscheinlich ist ein Großteil der beim Erdbeben Verschütteten nicht mehr am Leben Bereits mehr als 10 000 Menschen tot geborgen / Schwere Vorwürfe gegen die Regierung in Ankara Istanbul (SZ) - Die Erdbebenkatastrophe in der Westtürkei hat offenbar viel mehr Menschenleben gefordert als bisher angenommen. Mit bis zu 40 000 Toten wurde am Freitagabend, fast vier Tage nach den verheerenden Erdstößen, gerechnet. Diese Zahl nannte der UN-Hilfskoordinator für Europa, Sergio Piazzi, unter Berufung auf türkische Behörden. Diese hätten ermittelt, dass noch etwa 35 000 Menschen unter den Trümmern liegen. Höchstwahrscheinlich sei ein Großteil von ihnen nicht mehr am Leben, sagte Piazzi weiter. Eine Stellungnahme des Krisenstabs der türkischen Regierung gab es dazu zunächst nicht. Bis Freitagabend wurden mehr als 10 000 Tote geborgen. Die türkischen Medien erhoben erneut schwere Vorwürfe gegen die Regierung in Ankara. In der Erdbebenregion wuchs die Gefahr von Epidemien. Es mangelte nach wie vor an sauberem Wasser und sanitären Anlagen. Hunderttausende von Menschen lebten auch am Freitag noch auf der Straße. Auf Grund der Temperaturen um die dreißig Grad verwesten bereits die Leichen unter den Trümmern. Die Helfer konnten nur noch mit Mundschutz arbeiten und wurden gegen Typhus geimpft. Viele Opfer, die nicht identifiziert werden konnten, wurden in Massengräbern beerdigt. Die 72-Stunden-Frist, in der Experten ein Überleben von Verschütteten für möglich halten, lief in der Nacht zum gestrigen Freitag ab. Der UN-Hilfskoordinator Piazzi sagte, es bestehe aber noch bis Montag oder Dienstag die Chance, Verschüttete zu retten. In vielen eingestürzten Häusern gebe es Hohlräume, in denen ein längeres Überleben möglich sei. Am Freitag, also fast vier Tage nach der Katastrophe, wurde ein zehnjähriges Kind lebend aus einer Hausruine gezogen. Kurz zuvor hatten Rettungsteams an einer anderen Stelle ein neun Monate altes Baby lebend gefunden. Auch eine 67 Jahre alte Frau wurde lebend geborgen. "Nächtliche Panik" Der Krisenstab der türkischen Regierung teilte am Freitagabend mit, es seien bis dahin 10 000 Tote geborgen worden. Die Zahl der Verletzten wurde mit 45 000 angegeben. Am schwersten betroffen ist die Provinz Kocaeli, wo das Epizentrum des Bebens vom Dienstag mit einer Stärke von 7,8 auf der Richterskala gelegen hat. Allein dort erhöhte sich die Zahl der Toten auf fast 3300. Bei dem Erdbeben sind auch sechs Deutsche ums Leben gekommen. Vier Bundesbürger wurden am Freitag noch vermisst. Nach Angaben aus Ankara haben 32 Länder Hilfsmannschaften in das Erdbebengebiet entsandt. 2000 ausländische Helfer, 120 Suchhunde und unzählige Einheimische suchten nach Überlebenden, hieß es. Japan will Spezialisten entsenden, die nach dem Erdbeben in der japanischen Stadt Kobe den Wiederaufbau organisiert hatten. In Kobe sind vor viereinhalb Jahren 6430 Menschen umgekommen. Spezialisten aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und anderen Staaten gelang es am Freitag, den Brand in der staatlichen Tupras-Raffinerie in Izmet zu löschen. Unterdessen wurde abermals heftige Kritik an der türkischen Regierung geübt. In manchen Gebieten gibt es Medienberichten zufolge zwar inzwischen schweres Räumgerät, aber niemanden, der die Geräte bedienen kann. Mit den Worten "Was ist das für ein Staat?" kritisierte die Tageszeitung Radikal die Regierung in Ankara, der Konzeptlosigkeit vorgeworfen wurde. "Die Menschen, die sich schlicht und einfach allein gelassen fühlen, sind zornig. Diese Regierung hält zwar viele Reden, schafft es aber nicht einmal, Hilfe in die Erdbebengebiete zu entsenden", hieß es in dem Blatt. Die Tageszeitung Hurriyet berichtete unter der Schlagzeile "Nächtliche Panik" darüber, wie Bürger sich zu Initiativen zusammenschlossen, weil sie nicht länger auf staatliche Hilfe warten wollten. Die englischsprachige Zeitung Turkish Daily News kommentierte: "Wir sind zornig weil wir gesehen haben, wie ineffizient unser Staatsapparat mit dieser Krise umgegangen ist". Der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit wies die Kritik zurück und forderte Journalisten zur Zurückhaltung auf. Ecevit bezeichnete das Erdbeben als "eines der größten Unglücke in der Geschichte der Menschheit und das größte Unglück in der Geschichte der Türkei". Die türkische Armee bezichtigte Teile der türkischen Presse, den Volkszorn gegen Armee und Regierung durch falsche oder verfälschte Berichte zu schüren. Die Armeeführung wies die Darstellung zurück, Soldaten hätten Rettungstrupps auf einem Marinestützpunkt in der Stadt Gölcük aufgefordert, zunächst Armeeangehörige zu retten und sich erst dann um verschüttete Zivilisten zu kümmern. Medien hatten berichtet, dass in Gölcük israelische Helfer zu dem Stützpunkt "umgeleitet" worden seien, um den dort verschütteten Soldaten zu helfen, während die Zivilisten in der schwer beschädigten Stadt auf sich allein gestellt seien. |