Frankfurter Rundschau 21.8.1999 Für die Identifizierung der Leichen ist keine Zeit mehr Die Retter in der Türkei rechnen jetzt mit über 40 000 Toten / Bergungsarbeiten in den Erdbeben-Ruinen erweisen sich immer mehr als Fiasko Von Gerd Höhler (Istanbul) Eingewickelt in Decken und transparente Plastikfolie liegen die Leichen aufgereiht in der Eissporthalle von Izmit. Hunderte sind es wohl. Es ist kühl hier, aber dennoch liegt Verwesungsgeruch in der Luft. Menschen gehen durch die Reihen, vorsichtig, um auf dem spiegelglatten Eis nicht auszurutschen. Sie suchen unter den Toten ihre Angehörigen. Nicht nur hier, auch auf dem nahegelegenen Friedhof kommt es immer wieder zu bedrückenden Szenen. Während Frauen von ihren toten Männern, Mütter von ihren Kindern, Kinder von ihren Eltern Abschied nehmen und der islamische Gebetsruf ertönt, schaufeln nebenan Männer in der glühenden Hitze die nächsten Gräber. Fünf Millionen Lira, umgerechnet 21 Mark, zahlt die Stadtverwaltung den eilig angeheuerten Tagelöhnern, die mit Spitzhacken und Schaufeln den harten, trockenen Erdboden ausheben. Die Zeit drängt. Nachdem die Hoffnung, Überlebende des schweren Erdbebens vom Dienstag in den Ruinen zu finden, immer weiter schwindet, muss man nun vor allem Epidemien fürchten. Gefahr geht, bei sengender Hitze von weit über 30 Grad, nicht nur von den vielerorts gebrochenen Abwasserleitungen und den fehlenden Toiletten für die Obdachlosen aus, sondern vor allem von den Leichen. Auf ihre Identifizierung kann man nun nicht mehr warten. In Adapazari, 40 Kilometer östlich von Izmit, wurden bereits 963 Erdbebenopfer im einem von Baggern ausgehobenen Massengrab beigesetzt. Nicht weniger erschütternd als diese Szenen sind die Schicksale mancher Überlebender. In einem Krankenhaus in Izmit erzählt eine junge Frau, wie sie 36 Stunden unter den Trümmern ihres eingestürzten Hauses verbrachte. Sie, ihr Mann und ihr achtjähriger Sohn, hatten sich im Augenblick des Bebens aneinandergeklammert, dann sackte der Fußboden weg, Wände und Decken stürzten ein. In einem kleinen Hohlraum zwischen geborstenem Beton und zerkleinerten Möbelstücken harrten die drei eingeklemmt aus. "Ich bekomme keine Luft mehr, ich glaube, das ist das Ende", stöhnte ihr Mann nach ein paar Stunden, dann starb er. "Mami, mach mir etwas Platz", habe ihr Sohn gewimmert, "aber ich konnte mich ja nicht bewegen", erzählt die Frau unter Tränen. Wenig später verstummte auch die Stimme ihres Kindes. Nach 24 Stunden wurde die Frau als einzige Überlebende gerettet. 72 Stunden gelten, so sagen die Fachleute, als etwa die längste Zeitspanne, die ein Mensch verschüttet überleben kann, sofern er nicht schwer verletzt ist. Diese Frist ist am frühen Morgen des Freitag abgelaufen. Die letzten lebenden Verschütteten wurden in der Nacht zum Freitag gerettet, seither fand man nur noch Leichen. 99 Prozent der Überlebenden, so ein anderer Erfahrungswert, werden innerhalb der ersten 48 Stunden nach einem Erdbeben geborgen. Danach sinken die Überlebenschancen rapide, vor allem in großer Hitze, wie sie im türkischen Katastrophengebiet herrscht. Noch immer haben die Bergungsmannschaften an vielen eingestürzten Gebäuden gar nicht mit der Suche nach Verschütteten begonnen, aber allmählich lassen sich die furchtbaren Dimensionen dieses Desasters abschätzen. Mehr als 10 000 Tote waren bis zum Freitagabend geborgen, aber bis zu 35 000 Verschüttete müsse man noch unter den Ruinen vermuten, sagte ein Sprecher der Vereinten Nationen. Damit würde dieses Erdbeben die bisher schwerste Bebenkatastrophe der Türkei, bei der 1939 in Ostanatolien 33 000 Menschen ums Leben kamen, noch weit übertreffen. Die Zahl der Verletzten dürfte 45 000 erreichen, die der Obdachlosen könnte auf eine Million klettern, wenn sich erst einmal herausgestellt hat, wie viele Gebäude einsturzgefährdet sind. Wie diese Menschen mit Schlafstätten und Lebensmitteln versorgt werden sollen, wie man ihre Hygiene sicherstellen kann, ist bisher völlig offen. Schon mit der Versorgung jener rund 250 000 Menschen, die bisher ihre Bleibe verloren haben, ist der Staat völlig überfordert. An den Bergungsarbeiten gibt es wachsende Kritik. Von einem "totalen Fiasko" schrieb am Freitag die Turkish Daily News. Dass man von der Katastrophe überwältigt wurde, gestehen inzwischen auch viele Politiker ein. "Tausende Gebäude sind eingestürzt, wir können nicht alle erreichen", bat Ministerpräsident Bülent Ecevit um Verständnis und versprach: "Wir tun unser Bestes." Aber das ist ganz offenkundig nicht gut genug. Die Rettungsversuche wirken völlig planlos, Kommandostrukturen und Koordination sind nicht zu erkennen. Wo und wie nach Verschütteten gesucht wird, scheint dem Zufall überlassen. Mancherorts gibt es inzwischen schweres Räumgerät, aber niemanden, der es bedienen kann. Andernorts konnten ausländische Helfer die türkischen Bergungstrupps nur mit Mühe daran hindern, mit Planierraupen in den Ruinen nach Überlebenden zu "suchen". Die ausländischen Hilfstrupps sind völlig auf sich selbst gestellt, keiner koordiniert ihre Arbeit, "was vielleicht besser so ist", wie ein US- Feuerwehrmann meint, gelegentlich aber zu Problemen führt. Ein israelisches Hilfsteam verirrte sich, weil niemand den Weg zum Einsatzort kannte. Ein Gruppe deutscher Erdbebenhelfer suchte am Flughafen von Istanbul stundenlang nach den Transportkäfigen mit ihren Spürhunden und den Kisten mit ihrem Rettungsgerät. Auch im Zentrum Istanbuls, das keine nennenswerten Schäden davongetragen hat, campieren viele Menschen unter freiem Himmel. Auf dem Taksimplatz lagern die Familien unter den Platanen, manche suchen sich ihre Schlafstätte sogar auf dem schmalen Mittelstreifen der Hauptverkehrsstraße Cumhuriyet Caddesi, umtost von Autos, Lastwagen und Bussen. Am Donnerstagabend trieb eine neue Erdbebenwarnung Millionen Menschen ins Freie. Nachdem innerhalb von nur zwei Stunden rund 300 Nachbeben registriert wurden, warnten die Seismologen vor der Gefahr eines neuen schweren Erdstoßes. Allein in der Provinz Bursa, wo Gouverneur Orhan Tasanlar die Bevölkerung aufgefordert hatte, ihre Häuser zu verlassen, nächtigten zwei Millionen im Freien. Aber sogar im über 300 Kilometer entfernten Ankara suchten Zehntausende Zuflucht in Grünanlagen und Parks. Auf dem Taksimplatz in Istanbul haben auch Fehmi und seine fünfköpfige Familie ihr Lager aufgeschlagen. In einigen prall gefüllten Einkaufstüten verwahren sie ihre wichtigsten Habseligkeiten. Aysel, die zwölfjährige Tochter, schleppt gerade in einem Plastikkanister Trinkwasser heran. Der verdorrte Rasen ist trotz der darauf ausgebreiteten Wolldecken ein hartes Schlaflager, aber in die Wohnung im fünften Stock will Fehmi nicht zurück. "Wer garantiert mir, dass die Wände halten", fragt er und zeigt auf das Mietshaus am anderen Ende des Platzes, "wer weiß, wie die Bauarbeiter damals den Beton gemixt haben? Wer weiß, was die nächste Nacht bringt?" |