taz, 23.8.1999 Nach der Erde bebt das Volk Kaum mehr Überlebenschancen: Ausländische Hilfsorganisationen stellen ihre Arbeit im türkischen Erdbebengebiet ein. Kritik der Bevölkerung an unfähigen Politikern und abwesenden Soldaten wächst Berlin (taz) - Fünf Tage nach dem heftigen Erdbeben in der Türkei wächst dort die Kritik an der Unfähigkeit der politischen und militärischen Führung, eine effiziente Katastrophenhilfe auf die Beine zu stellen. Das Militär, mit 800.000 Soldaten eines der stärksten der Region, wurde wegen mangelhaften Engagements kritisiert: Nach Angaben der Militärführung waren bisher 53.000 Soldaten im Erdbebengebiet eingesetzt, doch vor Ort war diese Präsenz nicht wahrzunehmen. Auch wurde bemängelt, an einzelnen Stellen hätten sich die Soldaten vor allem um die Bergung verschütteter Militärangehöriger gekümmert. Der Chef des Generalstabs, Hüsseyin Kivrikoglu, wies die Kritik von sich, stockte aber die Zahl der eingesetzten Soldaten auf und wies daraufhin, dass seine Truppe auf Anforderung für weitere Hilfsmaßnahmen zur Verfügung stehe. Die verspätete Anforderung an die Militärs geht offenbar auf die Zurückhaltung der Regierung zurück, die nicht durch eine Ausrufung des Ausnahmezustands Macht an das Militär abgeben wollte - der letzte Putsch ist nicht vergessen. Während Premierminister Ecevit am Samstag die Kritik an der Untätigkeit der Regierung zurückwies, wurden drei Gouverneure der Erdbebenregion wegen Unfähigkeit entlassen und durch Beamte des Innenministeriums ersetzt. Fünf Tage nach dem Beben erließ die Regierung ein Dekret, wonach in der ganzen Türkei alles Gerät den Behörden zur Verfügung gestellt werden soll, das zur Beseitigung von Erdbebenschäden geeignet ist. Inzwischen schwindet die Hoffnung auf die Bergung Überlebender: Die ersten ausländischen Hilfsmannschaften bereiteten sich gestern auf ihren Abzug vor. So verließen britische und holländische Hilfsteams die Stadt Adapazari, um den Weg für Bulldozer freizumachen, die das betroffene Gelände planieren sollen. Am Sonntag war noch ein 57-jährige Frau lebend geborgen worden. Die starke Hitze der letzten Tage lässt befürchten, dass die unter den Trümmern Begrabenen mittlerweile an Wassermangel gestorben sind. Hingegen sind für die nächsten Tage starke Regenfälle vorhergesagt, was die Unterbringung der Obdachlosen erschweren wird. Die Zahl der Toten wurde gestern Mittag auf über 12.000 geschätzt, unter den Trümmern liegen vermutlich weitere 35.000 Menschen. Nach Angaben der Tageszeitung Radikal wurden die Stadt Gölçük und fünf Orte in der besonders betroffenen Provinz Sakarya wegen Seuchengefahr unter Quarantäne gestellt. Für Gölçük wurde diese Nachricht allerdings von der Provinzregierung dementiert. Gouverneur Memduh Oguz erklärte zugleich, es sei ab sofort privaten Autos nicht mehr erlaubt, zwischen Gölçük und Izmit zu fahren, um die Straße für Hilffahrzeuge freizuhalten. In verschiedenen Städten werden inzwischen Massengräber ausgehoben, in den Städten Desinfektionsmittel versprüht. Während Istanbul am Sonntag von Nachbeben erschüttert wurde, sagte Wohnungsbauminister Koray zu, zehntausende (von ca. 200.000) Obdachlose würden provisorische Unterkünfte erhalten. Ferner ist die Unterbringung von Erdbebenopfern in Sporthallen, Jugendheimen und leer stehenden Ferienwohnungen vorgesehen. -ant- taz, 23.8.1999 Seite 2 Jetzt wird nach Tätern gesucht Inkompetenz der Hilfsorganisationen, Mangel an Verantwortungsgefühl seitens der Politik und der Armee sowie Pfusch am Bau durch kriminelle Bauunternehmer - fünf Tage nach dem Erdbeben in der Türkei wendet sich der Zorn vieler Türken gegen die Verantwortlichen. Ziel der Kritik sind nicht nur korrupte Bürokraten, sondern die politische Kaste an sich: Die Regierung habe sich dem Druck der Immobilienhaie gebeugt, statt dem Rat der Fachleute zu folgen. Die Armee muß sich nun den Vorwurf gefallen lassen, sie hbe bei den Rettungsarbeiten gänzlich gefehlt Fünf Tage nach dem Erdbeben hat in der Türkei die Suche nach Verantwortlichen begonnen. Während die vergangenen Tage vor allem der aktuellen Berichterstattung über Opfer und Gerettete gewidmet waren, äußern sich jetzt zunehmend kritische Stimmen über Gründe für das Ausmaß der Katastrophe. Schon in den vergangenen Tagen waren Anklagen gegen windige Bauunternehmer laut geworden, die mit billigem Baumaterial kostensparend gebaut hatten (siehe unten). Inzwischen wendet sich der Zorn jedoch auch an die politisch Verantwortlichen. So erklärte der Anwalt einer Umweltschutzorganisation in Izmir gegenüber dem Fernsehsender NTV, auch die Gemeindeangestellten müssten zur Verantwortung gezogen werden, die an ungeeigneten Stellen unseriösen Unternehmern Baugenehmigungen erteilt hätten. Die auflagenstarke Boulevardzeitung Hürriyet beklagt in einem Kommentar, es gehe nicht nur um gottgewollte Schäden, sondern in großem Ausmaß um menschliches Verschulden. "Insofern sind bei diesem Erdbeben nicht nur ein paar Häuser zerstört worden, sondern das System als Ganzes", heißt es in dem Kommentar. Das in der Türkei vorherrschende ungesunde Verständnis von Politik bestehe in der Plazierung von ungeeigneten, aber der richtigen Partei angehörendem Personal in der Administration. Die Tageszeitung Cumhuriyet beklagte den Mangel einer Zivilgesellschaft in der Türkei, den Mangel an Verantwortungsgefühl seitens der Verantwortlichen. Angeblich hätten US-amerikanische Wissenschaftler die türkischen Behörden vor einem bevorstehenden Erdbeben gewarnt, doch diese hätten die Affäre sich selbst überlassen. Der Vorsitzende der türkischen Ingenieursvereinigung, Turan Pazarli, forderte unterdessen, Baugenehmigungen sollten in Zukunft nicht mehr von Gemeinden, sondern von den Kammern der einzelnen Berufe erteilt werden. Besondere Empörung rief in diesem Zusammenhang eine Äußerung des Gesundheitsministers Durmus hervor, man brauche keine weiteren Freiwilligen, um nach weiteren Überlebenden zu suchen bzw. die Geretteten zu versorgen: Die Freiwilligen verursachten nur Umweltverschmutzung. Während Milliyet gestern mit Fotos und Texten die technologisch gut ausgerüsteten, gut arbeitenden ausländischen Hilfskräfte den mit Händen grabenden Türken gegenüberstellte, beklagt die Tageszeitung Cumhuriyet , in der vom Erdbeben stark betroffenen Stadt Gölçük sei nicht ein einziges Toilettenhäuschen aufgestellt worden. Gölçük ist wie fünf Orte in der Provinz Sakarya inzwischen unter Quarantäne gestellt. An anderen Orten würden aufgrund mangelnder Organisation Lebensmittel verderben und Leute hungern. Ziel der Kritik sind nicht nur korrupte Bürokraten, sondern auch die politische Kaste an sich - eingedenk der Tatsache, dass die aktuelle Regierung zwar erst seit wenigen Monaten im Amt ist, die Mehrheit der führenden Politiker wie Staatspräsident Demirel und Premierminister Ecevit jedoch schon lange Zeit politische Verantwortung tragen. Aus den großen Erdbeben 1938 in Erzincan und dem von 1996 in Adana hätten die politisch Verantwortlichen Konsequenzen ziehen müssen, schimpft Mete Tapan, Professor für Achitektur in der Tageszeitung Radikal. Doch vor allem die regionalen Politiker hätten sich dem Druck der Immobilienhaie gebeugt, anstatt dem Rat der Fachleute zu folgen. Einer der beiden Hauptadressaten der Kritik, Premierminister Bülent Ecevit, wies am Samstag in einer Fernsehansprache die Kritik zurück. Das Ausmaß des Erdbebens habe die Möglichkeiten der Regierung überstiegen. Auch Staatspräsident Süleyman Demirel versicherte, der Staat könne keine "Wunder" bewirken. Ecevit sagte den Erdbebenopfern staatliche Hilfe für den Wiederaufbau zu - ein Versprechen, das wohl wenig Euphorie auslösen wird angesichts der Tatsache, dass nach den letzten Beben die Überlebenden teilweise noch Jahre in Zelten leben mussten. Ein in der Presse nicht näher benannter Minister von der regierenden MHP baut hingegen auf übermenschliche Hilfe: "Wir werden das Erdbeben mit Gottes Hilfe besiegen", prognostiziert er. Das Militär, dessen Passivität im Zusammenhang mit dem Erdbeben zunehmend in die Kritik geraten ist, tritt nun offenbar eigenmächtig in Aktion. In der Stadt Kocaeli übernahm ein General die Führung des dortigen Krisenstabs, weil er der Ansicht war, der Stab habe bislang versagt. In der Stadt sollen an 15 Orten Zeltstädte errichtet werden. In die unter Quarantäne stehende Stadt Gölcük kam am Samstagabend der Vorsitzende des Generalstabs, Hüseyin Kivrikoglu, um den Fortlauf der Arbeiten zu inspizieren. Militärische Ausbildungslager in Yalova und neuerdings auch in der Kleinstadt Erdek sind inzwischen für Erdbebenopfer geöffnet worden; es sollen dort Zelte aufgebaut werden. Unterdessen sind erste Festnahmen wegen grober Fahrlässigkeit bei Planung und Bau von Häusern erfolgt, in Eskisehir nahm die Polizei einen Mann fest, der für die Konstruktion eines siebenstöckigen Wohnhauses verantwortlich war. Ferner wurden drei Brüder festgenommen, die beim Bau von 17 Häusern in einer Kleinsiedlung offenbar gepfuscht hatten. Antje Bauer |