Frankfurter Rundschau 23.8.1999 Veli Göcers Gewissensbisse Alles über Nacht gebaut und in Sekunden zerstört Von Gerd Höhler (Istanbul) 600 Wohnblocks hat der türkische Bauunternehmer Veli Göcer während der vergangenen Jahre in der Hafenstadt Yalova und der benachbarten Ortschaft Cinarcik hochgezogen. Die per Zeitungsanzeigen angebotenen Eigentumswohnungen gingen weg wie warme Semmeln, denn sie waren billig. Die vermeintlichen Occasionen erwiesen sich jetzt als Todesfallen. Als am vergangenen Dienstag früh die Erde bebte, stürzten 550 der 600 Häuser ein. In einem Telefoninterview mit der Zeitung Milliyet räumte Göcer ein, in seinen Häusern zuwenig Stahl und zuviel Sand verbaut zu haben. "Mein Gewissen quält mich", jammerte der Bauunternehmer. Gewissensbisse müssten sich auch die Politiker und Beamten machen, die solchen Pfusch jahrzehntelang hinnahmen. Im Großraum Istanbul mit seinen geschätzt zwölf Millionen Einwohnern wurden etwa zwei Drittel aller Gebäude illegal errichtet. Selbst wenn viele dieser Häuser nachträglich von den Behörden genehmigt wurden, nicht selten nach der Zahlung saftiger Bestechungsgelder, wurden die Einhaltung der Bauvorschriften, die Statik und die Qualität der verwendeten Materialien so gut wie nie überprüft. Brennpunkte des illegalen Bauens sind traditionell die Gecekondus, die Armenviertel am Rand der türkischen Städte. Übersetzt bedeutet der Begriff Gecekondu: über Nacht erbaut. Zu Zeiten des Osmanischen Reiches galt die Regel, dass alle Gebäude, die in einer einzigen Nacht errichtet wurden, als legal angesehen wurden. Die Tradition hat sich gehalten. Viele Gecekondus, erbaut meist auf staatlichem oder städtischem Grund, haben sich längst in regelrechte Trabantenstädte verwandelt. Wo vor ein, zwei Jahrzehnten ärmliche Hütten standen, sind mehrstöckige Wohnhäuser emporgewachsen. Die Nachfrage nach Wohnraum im Umkreis der Städte ist gewaltig. Lebten noch vor 50 Jahren zwei Drittel der Türken auf dem Land und ein Drittel in den Städten, so ist das Verhältnis inzwischen umgekehrt. Nicht nur die Suche nach Arbeitsplätzen treibt die Landflüchtigen in die Städte. In den zurückliegenden Jahren hat auch der Kurdenkrieg für eine Flüchtlingswelle gesorgt. Mehr als 3000 kurdische Dörfer in Ost- und Südostanatolien hat die türkische Armee zwangsevakuiert und größtenteils zerstört. Ihre Bewohner, weit über eine Million Menschen, wurden zu Flüchtlingen im eigenen Land. Viele von ihnen leben heute in den Elendsvierteln der südostanatolischen Städte Diyarbakir, Urfa, Malatya und Gaziantep, viele aber wanderten weiter westwärts, bis nach Ankara, Izmir und Istanbul. Allein die Metropole am Bosporus muss pro Tag den Zustrom von mindestens tausend Neuankömmlingen verkraften. Eine eigene Miet- oder gar Eigentumswohnung können sich die allerwenigsten leisten. Wer Verwandte in der Stadt hat, kommt dort unter. So werden auf viele illegal errichtete Häuser im Laufe der Jahre zwei oder sogar drei Stockwerke draufgesetzt, oft in Eigenarbeit, um Wohnraum für die Zuwanderer zu schaffen. Vor allem diese Konstruktionen brechen schon bei mittleren Erdstößen zusammen. Jetzt könnte das Erdbeben eine neue Flüchtlingswelle auslösen. Schätzungsweise zwei Millionen Menschen sind obdachlos. Viele von ihnen werden nicht darauf warten, bis ihre zerstörten Häuser wieder aufgebaut sind, sondern in andere Gegenden ziehen - vielleicht nach Süden, an die Ägäisküste, vielleicht nach Norden, ans Schwarze Meer. Gleich wo die Umsiedler Zuflucht finden: Wieder werden es wohl Behausungen zweifelhafter Qualität sein, in denen sie unterkommen. Bauunternehmer Veli Göcer sieht sich unterdessen selbst als Opfer: "Wenn der Staat mich rechtzeitig gestoppt hätte, wäre es nicht so weit gekommen", lautet seine eigenartige Rechtfertigung. Auch das Büro der Göcer-Bauunternehmung in Cinarcik wurde übrigens völlig verwüstet - allerdings nicht durch das Erdbeben, sondern von wütenden Kunden. Der Firmenchef, den die Menge fast gelyncht hätten, hält sich, wie er der Milliyet sagte, inzwischen im ostanatolischen Malatya auf. Anderen Berichten zufolge soll er sich nach Deutschland abgesetzt haben.
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