junge Welt 23.08.1999 »Der Staat liegt unter den Trümmern« Türkei: Kritik an Bauunternehmern und der politischen Führung, Warnungen bewußt mißachtet zu haben Nach dem verheerenden Erdbeben im Nordwesten der Türkei sind bisher mehr als 12 000 Todesopfer geborgen worden. Rund 35 000 Menschen werden noch unter den Trümmern vermutet, so daß mit einer Vervierfachung der Todeszahlen gerechnet werden muß. Drei Minister der türkischen Regierung haben am Sonntag die Aufgaben von Provinzgouverneuren im Erdbebengebiet übernommen, die wegen Unfähigkeit entlassen worden waren. Arbeitsminister Yasar Okuyan, Erziehungsminister Metin Bostancioglu und Staatsminister Hasan Gemici sind ab sofort für die Koordination der Hilfsbemühungen in den Provinzen Yalova, Izmit und Sakarya zuständig. Die Unbekümmertheit des türkischen Staates kostete in den letzten Jahren Tausende Menschen das Leben. Allein bei Erdbeben starben 65 000 Menschen, mehr als 125 000 wurden verletzt. In ihren Erklärungen verweist die Staatsführung auf die »Natürlichkeit« der »Naturkatastrophen«, gegen die nichts zu machen sei. Und so versprechen die Verantwortlichen nach jedem Erdbeben, daß die Wunden wieder geheilt und entsprechende Hilfsmaßnahmen getroffen würden. Nach dem Erdbeben in Adana im vergangenen Jahr wurde mehrmals vor schlampig gebauten Häusern gewarnt. Bauunternehmer, die die Wohnhäuser ohne Rücksicht auf die bekannte Erdbebengefahr billig hochgezogen haben, standen hart in der Kritik. Wie dieser Tage Ministerpräsident Bülent Ecevit versprachen schon damals die Regierung und Staatspräsident Süleyman Demirel, daß Maßnahmen gegen das wilde Bauen ergriffen würden. Das jüngste Erdbeben hat indes deutlich vor Augen geführt, daß sich nichts geändert hat. Allein in Vororten von Istanbul sind in den letzten Jahren mehrstöckige Häuser ohne Baugenehmigung billig errichtet worden. Bauunternehmer, die aus der Landflucht in der Türkei ihren Profit schlagen, wurden von Politikern und Behörden geduldet. Denn all diese Menschen sind billige Arbeitskräfte in den Metropolen des Landes und gleichzeitig neue Wähler. Damals wie heute sind die Erdbeben, die Tausende Menschen das Leben kosten, für das Krisenzentrum wie für die Regierung »natürlich«. Doch was ist bei solch einer Katastrophe »natürlich«, wenn wiederholt darauf aufmerksam gemacht wurde, daß Teile der Türkei stark gefährdetes Erdbebenland sind? Ingenieure, Seismologen und Architekten verlangten vom Staat, in den betreffenden Gebieten keine Baugenehmigungen mehr zu erteilen. Doch der Staat kümmerte sich nicht um diese Warnungen. Für die neu zugewanderten Menschen mußten schnell neue Wohnsiedlungen gebaut werden. Billigwohnungsbau und Pfusch zeitigten nun verheerene Folgen. Der Verband der türkischen Ingenieur- und Architektenkammern erklärte im vergangenen Jahr, daß für Naturkatastrophen wie Erdbeben natürlich keine hundertprozentigen Warnsysteme existieren. Durch Vorsichtsmaßnahmen könnten jedoch die Schäden beträchtlich verringert werden. Die katastrophalen Folgen der Erdbeben 1992 in Erzincan, 1995 in Dinar und 1998 in Adana waren keine natürlichen Schicksale. Im Gegenteil, sie resultierten aus einer verfehlten Stadtplanung, die bewußt betrieben wurde. Zwischen 1943 und 1985 wurden gezielt Vorsichtsmaßnahmen gegen Erdbeben getroffen, die auch gesetzlich abgesichert wurden. Damit sollten die Schäden solcher Naturkatastrophen möglichst gering gehalten werden. In diesen Jahren wurden die gefährdeten Zonen registriert. Das Bauministeriun hat zusammen mit mehreren Universitäten eine entsprechende Landkarte angefertigt. Für die Bebauung der gefährdeten Gebiete wurden Sondergesetze und - regeln geschaffen. Im Rahmen einer großangelegten Privatisierungswelle von Staatseigentum wurden 1985 all diese Gesetze ignoriert oder »übersehen«. Privatinvestoren konnten bauen, wo und wie sie es wollten. Die notwendigen Baugenehmigungen wurden massenweise vor Kommunal- und Parlamentswahlen erteilt. Der Vorsitzende der Gewerkschaft Hak-Is, Salim Uslu, erklärte: »In den Erdbebengebieten ist die Würde der Menschen mit den Füßen getreten worden. Die Unfähigkeit, Unwissenheit und Unbekümmertheit des Staates hat uns genau wie dieses Erdbeben sehr hart getroffen«, so Uslu. Die zuständigen Verwaltungsstellen wie auch die türkischen Hilfsorganisationen hätten absolut versagt. Im Zentrum der Gewerkschaftskritik: Die türkische Regierung und das Krisenzentrum. Die Tageszeitung Evrensel kommentierte die Ereignisse: »Der tagtäglich an jedem Ort präsente Staat ist nach dem Erdbeben plötzlich verschwunden.« Die Militärführung reagiert wie gelähmt. »Einzig zur Rettung ihrer verschütteten Admirale wurden in kurzer Zeit Soldaten nach Gölcük versetzt.« Die Polizei, die in einer mittelgroßen Stadt in kürzester Zeit gleichzeitig alle Straßen und Verkehrsknotenpunkte unter Kontrolle nehmen könne, sei nach dem Erdbeben nicht dazu in der Lage gewesen, für die einfache öfffentliche Ordnung zu sorgen. Die staatliche Hilfsorganisation Roter Halbmond, die immer stolz darauf sei, bei Bedarf möglichst schnell einen Lkw in ein Katastrophengebiet in den Nachbarländern schicken zu können, habe nach dem Erdbeben in der Türkei eine Zeltspende-Aktion ins Leben gerufen. Ganz so, ob der Rote Halbmond eine Zeltanschaffungsstelle sei, habe man in den ersten Katastrophentagen von der Hilfsorganisation ansonsten nichts gehört und gesehen, so »Evrensel«. Krönung all dessen sei indes, daß das Parlament das Erdbeben als ein »von Gott gewolltes Ereignis« bezeichnete. »Der Staat, der anstatt seinen Bürgern zu helfen, seine Aufgabe daran sieht, die Bevölkerung in Schach zu halten, hat mit all seinen Institutionen versagt. All diese Institutionen haben die Aufgabe, eine Massenbewegung zu unterdrücken. Der türkische Staat ist eine >Gewaltinstitution<. Daher ist er auch nicht fähig, seinen Bürgern effektiv zu helfen«, so »Evrensel«. Die Institutionen des türkischen Staates seien auf Unterdrückung und Vernichtung ausgerichtet. Daher gebe es auch nicht genügend Rettungsmaschinen und Organisationen. Es sei mehr als deutlich geworden, daß der Staat mit diesen Institutionen selbst unter den Trümmern liege. Die entlassenen Provinzgouverneure in Yalova, Izmit und Sakarya sind dabei allenfalls Bauernopfer. Tuncay Seyman |