Frankfurter Rundschau 24.8.1999 Annäherung der Erbfeinde Beben lässt Türken und Griechen aufeinander zugehen Von Gerd Höhler (Istanbul) Die Männer schufteten 17 Stunden lang ohne Pause, dann war der Neunjährige endlich befreit. Beifall brandete auf im erdbebenverwüsteten Istanbuler Stadtteil Avcilar, die Retter wurden umarmt und abgeküsst. Es waren Griechen, Männer der Athener EKAM, der Sondereinheit zur Katastrophenbewältigung. Was manche Politiker jahrzehntelang versuchten, andere dagegen immer wieder torpedierten, was Wirtschaftsführer und Intellektuelle beider Völker längst als Notwendigkeit erkannten, scheint die Erdbebenkatastrophe nun zu Wege zu bringen: Türken und Griechen kommen einander näher. Schon wenige Stunden nach dem Erdstoß landeten drei "Hercules"-Transporter der griechischen Luftwaffe in Istanbul. Sie brachten Rettungsmannschaften, Ärzte und Medikamente. Aber es blieb nicht bei staatlicher Hilfe. Das Beben im Nachbarland hat unter den Griechen, die selbst immer wieder von Erdstößen heimgesucht werden, eine beispiellose Welle des Mitgefühls und der Hilfsbereitschaft ausgelöst. Selbst aus den hintersten Winkeln der hellenischen Provinz kamen Geld- und Kleiderspenden, Kommunen luden türkische Kinder zu Sommerferien ein. Die türkische Botschaft in Athen, sonst fast wöchentlich von Demonstranten belagert, registrierte tausende Kondolenzbekundungen. Symbolkraft hatte, dass die Griechen sogar zu Blutspenden für die Erdbebenopfer Schlange standen. Die Katastrophe habe eines bewirkt, meinte der Athener Außenminister Jorgos Papandreou: "Sie hat uns daran erinnert, dass wir alle Menschen, alle sterblich sind, und das vereint uns." Vergessen scheint, dass die beiden "Erbfeinde" noch vor dreieinhalb Jahren wegen des Streits um einige unbewohnte Felseninseln an den Rand eines Krieges gerieten. Vergeben scheint die Affäre um PKK-Chef Abdullah Öcalan, den die Griechen Anfang des Jahres in ihrer Botschafterresidenz in Nairobi zu verstecken versuchten, was den türkischen Staatschef Süleyman Demirel dazu veranlasste, Griechenland weltweit als "Staat der Gesetzlosen" anzuprangern. Vergessen und vergeben. "Wir haben mitgefühlt, und wir haben geweint", schrieb die Athener Zeitung Eleftherotypia. "Vielen Dank, Freunde!" titelte, auf Griechisch, das Istanbuler Massenblatt Hürriyet. Aber wird diese plötzlich aufbrandende Woge des Mitgefühls helfen, das griechisch-türkische Verhältnis dauerhaft zu normalisieren? Werden die Feinde wirklich zu Freunden? Darauf kann man heute noch keine Antwort geben. Der griechische Außenminister Papandreou, der seit Monaten auf eine Entspannung mit der Türkei hinarbeitet, dürfte versuchen, die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen. Auch sein türkischer Amtskollege Ismail Cem gilt als verständigungsbereit. Aber es gibt Widerstände. Papandreou muss sich des nationalistischen Flügels der sozialistischen Regierungspartei erwehren, und Cem könnte von Ministerpräsident Bülent Ecevit zurückgepfiffen werden. Der nationalbewusste Premier gilt gegenüber den Griechen als Falke. Überdies gibt es einige harte Nüsse, die geknackt werden müssten, sollte es zu einer wirklichen Aussöhnung kommen: den Streit um die Hoheitsrechte in der Ägäis, die türkischen Gebietsansprüche auf griechische Inseln, die militärischen Kontrollbefugnisse beider Länder und, nicht zuletzt, die Zypernfrage. Ein Konfliktpunkt allerdings könnte schon bald abgehakt werden. Seit Jahren blockiert Griechenland wegen der bilateralen Streitfragen die EU-Finanzhilfe für die Türkei. Die Hilfsbedürftigkeit der Türkei nach der Erdbebenkatastrophe könnte Papandreou den Anlass liefern, dieses von den EU-Partnern seit langem kritisierte Veto endlich aufzuheben. |