junge Welt 24.8.1999 Allahs Wille Nach dem Erdbeben in der Türkei Es hätte nicht des verheerenden Erdbebens in der Türkei bedurft, um aller Welt mafiose Strukturen, erschreckende Rückständigkeit und patriarchal verbrämte Engstirnigkeit der türkischen Gesellschaft vor Augen zu führen. Während Zehntausende unter den Trümmern der von einer skrupellosen Baumafia illegal errichteten Gebäude einen qualvollen Tod sterben, wird in Ankara schwer gearbeitet: Jedes Ministerium bildet einen Krisenstab und betreibt Bestandsaufnahme; es werden Tote gezählt und Leichensäcke bestellt. Der türkische Gesundheitsminister Osman Durmus, der der rechtsextremen Partei der Grauen Wölfe (MHP) angehört, erklärt, daß Hilfe aus dem Ausland nicht erwünscht sei. Blutspenden aus Griechenland wolle man schon gar nicht. Schwerfällig setzen die Hilfsmaßnahmen ein, obwohl die türkische Armee als eine der mobilsten der Welt gilt - doch anscheinend nur, wenn es darum geht, kurdische Dörfer dem Erdboden gleichzumachen. Im Katastrophengebiet hilft sich das Militär zunächst selbst und sucht auf einer Militärbasis nach verschütteten Admirälen. Eigeninitiative privater Hilfsorganisationen wird von autoritären Provinzfürsten, die eigentlich froh sein sollten, daß überhaupt etwas unternommen wird, unterbunden. »Wir sind doch auch Menschen!« - mit diesen Worten beklagen sich die Menschen über die Zustände im Land. Eine Stimmung, die schnell gegen die Herrschenden umschlagen kann. Anlaß dazu besteht mehr als genug. Staatspräsident Süleyman Demirel hat die Ursache für das weltweit folgenschwerste Beben dieses Jahrzehnts messerscharf analysiert: Tektonische Verschiebungen, Kontinentaldrift, auf und aus Sand gebaute Häuser? Unsinn. Es sei der Wille Allahs, der hier gewütet habe. Und Ministerpräsident Bülent Ecevit, seit Jahrzehnten (ebenso wie Demirel) einer der Hauptverantwortlichen für die Fehlentwicklung der türkischen Gesellschaft, hat nichts Besseres zu tun, als seinem Volk mitzuteilen, daß niemand das Recht habe, an der Stärke des türkischen Staates zu zweifeln. Wohl doch. Wenn die normalerweise überwiegend staatstreue türkische Presse die korrupten Beamten der Bauaufsicht sowie die untergetauchten Bauunternehmer Mörder nennt, dann sicherlich auch, um die eigene Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel zu setzen. Denn in Izmit, Gölcük und Sakarya wurde zehntausendfach der Beweis erbracht, daß man Menschen eben doch mit ihrer Wohnung erschlagen kann. Uwe Soukup |