taz, 25.8.1999

Visumzwang - auch für Erdbebenopfer

Die Betroffenen des Bebens in der Türkei dürfen nur dann nach Deutschland kommen, wenn sie hier nahe Verwandte haben. Türkische Verbände und die Ausländerbeauftragte nennen die Regelung unzureichend

Berlin (taz) - Nach einer Vereinbarung von Bund und Ländern können türkische Erdbebenopfer mit engen Angehörigen in Deutschland ab sofort schnell und ohne bürokratischen Aufwand einreisen. So die Sicht des Bundesinnenministeriums. Dieses teilte gestern mit, ledige Kinder unter 16 Jahren und Ehegatten von in Deutschland lebenden Türken erhielten ab sofort Ausnahmevisa. Auch behandlungsbedürftigen Verletzten oder Waisen mit entfernten Verwandten in Deutschland soll in Einzelfällen eine kurzfristige Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden. Die Visa sollen auf 15 Tage befristet werden. Eine Verlängerung auf 90 Tage soll möglich sein. Gestern wollte der Bundesgrenzschutz am Flughafen Istanbul eine Stelle zur Erteilung der Ausnahmegenehmigungen einrichten.

Sowohl Vertreter türkischer Interessenorganisationen als auch die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marielouise Beck, kritisierten die Regelung als unzureichend. "Wer jetzt kommen darf, konnte auch schon vorher im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland kommen", bemängelt Beck gegenüber der taz. Sie fordert, den Kreis der Angehörigen zu erweitern.

Auch der DGB Berlin-Brandenburg drängt auf die unbürokratische Erteilung von Einreisegenehmigungen für Erdbebenopfer aus der Türkei. "Die Innenminister sind offenbar nicht zu einer zügigen Visa-Erteilung für die betroffenen Menschen bereit", kritisierte der DGB-Landesvorsitzende Bernd Rissmann.

Trotz der mangelhaften Regelung der Innenminister rät die Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John von spontanen Einreisen ohne vorherige Zustimmung der jeweiligen Bundesländer dringend ab. "All diese Versuche sind nach diesen Vorgaben zum Scheitern verurteilt und sollten den ohnehin schwer geprüften Erdbebenopfern nicht zugemutet werden." Die Türkische Gemeinde in Deutschland bewertet derweil die Hilfe der Bundesregierung für die Erdbebenopfer als unzureichend. Die inzwischen auf fünf Millionen Mark aufgestockte Soforthilfe sei unwürdig für ein Land wie Deutschland, in dem 2,3 Millionen türkische Staatsbürger leben, meint deren Sprecher Hakki Keskin. Der Grünen-Politiker Özdemir wies die Vorwürfe zurück und meinte: "Die Herren sollten sich erst einmal sachkundig machen."

Das Auswärtige Amt widersprach der Auffassung, zu wenig Geld für die Soforthilfe bereitzustellen. Diese diene ausschießlich der unmittelbaren Nothilfe. Bundesaußenminister Joschka Fischer hat seine europäischen Kollegen brieflich dazu aufgefordert, sich ebenfalls für eine umfangreiche europäische Wiederaufbauhilfe in der Türkei einzusetzen.

ese