taz, 27.8.1999 Türkische Gemeinde zerbricht an Deutschland-Kritik Der Vorsitzende des Deutsch-Türkischen Dachverbandes löst eine Welle der Empörung aus, weil er die Erdbebenhilfe der Bundesregierung "unwürdig" genannt hat. Zahlreiche Mitglieder distanzieren sich Berlin (taz) - Hakki Keskin, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), hat seine Organisation in eine Legitimationskrise geredet. "Die auf fünf Millionen Mark aufgestockte Soforthilfe der Bundesregierung für die Erdbebenopfer in der Türkei ist unwürdig für ein reiches Land wie Deutschland." Diese Einschätzung hat unter den Deutschtürken eine Welle der Empörung ausgelöst. Der stellvertretende Bundesvorsitzende des Dachverbandes, der Hamburger Reiseveranstalter Vural Öger, ist am Mittwoch unter Protest aus der TGD ausgetreten. Er stellt inzwischen die Legitimation der TGD in Frage: "Die Türkische Gemeinde hat nicht das gebracht, was sie versprochen hat." Zahlreiche türkische Organisationen haben sich von Keskin distanziert. Und inzwischen ist die Debatte in vollem Gang, wer die Deutschtürken künftig repräsentieren soll. Nüchtern stellt der innenpolitische Sprecher der Grünen, Cem Özdemir, fest: "Die Zeit von Diaspora-Türken wie Hakki Keskin ist vorbei. Wir brauchen keine Berufstürken mehr, sondern Vertreter, die sich als Teil dieser Gesellschaft begreifen und aus dieser Position heraus ihre Kritik formulieren." Außenminister Fischer zeigt sich unbeeindruckt von Keskins Kritik. Inzwischen hat er die wichtigsten türkischen Organisationen zu einem Gespräch geladen, um die Erdbebenhilfe zu erörtern. Bereits am Dienstag hat sich Fischer in einem Schreiben an die finnische EU-Präsidentschaft für eine "großzügige" Finanzhilfe der EU an die Türkei eingesetzt. Konkret geht es um die Freigabe von Haushaltsmitteln von rund 735 Millionen Mark und ein Darlehen der Europäischen Investitionsbank von 1,47 Milliarden Mark. Diese Mittel waren der Türkei im Zusammenhang mit der Zollunion bereits vor Jahren zugesagt worden. Das Europaparlament hatte die Gelder 1996 aus Protest gegen die Zypern- und Kurdenpolitik Ankaras eingefroren. Beim nächsten Treffen der EU-Außenminister am 5. und 6. September in Finnland wird Fischer dieses Thema auf die Tagesordnung setzen. Für die Bundestagsabgeordnete Leyla Onur (SPD) würde die Freigabe der Mittel zweierlei bedeuten: "Zum einen ist dies eine Selbstverständlichkeit in Zeiten der Not. Zum anderen wäre dies ein Akt mit großem symbolischem Wert. Der Türkei würde signalisiert, dass in Europa der ernste Wille besteht, die Beziehungen zu Ankara zu verbessern." Ein baldiger EU-Beitritt steht für Onu damit nicht auf der Tagesordnung. Eberhard Seidel |