Hamburger Abendblatt, 27.8.1999 Ein politisches Nachbeben in Ankara Die peinlichen Sprüche eines Ministers erregen die Türkei Nikosia - Osman Durmus hat Redeverbot. Der türkische Gesundheitsminister soll seinen Regierungschef Bülent Ecevit so verärgert haben, dass der ihn zum Schweigen verdonnerte. Wie berichtet, hatte Durmus ausländische Hilfe für die Opfer des Erdbebens für "überflüssig" erklärt. Dringend benötigte Blutspenden aus Athen ließ er gar nicht erst ins Land. Auch armenische Ärzte samt Hilfsausrüstung durften nicht einreisen. Als griechische Kapitäne ihre Kühlschiffe spontan als provisorische Leichenhallen anboten, lehnte er selbstherrlich ab. Dass Retter aus Hellas vor Freude weinten, als sie Kinder lebend aus den Trümmern bargen, hat Millionen von Türken tief bewegt - Durmus ließ es völlig kalt. Die Istanbuler Zeitung "Radikal" nennt ihn seitdem einen "ignoranten Rassisten". Der Soziologe Dogu Ergil, Vorsitzender des Zentrums für die Erforschung gesellschaftlicher Probleme (Tosam) in Ankara, glaubt nicht an späte Reue des Skandalministers. "Durmus wird sich an seinen Sessel krallen", sagte er dem Abendblatt. "Seine Partei wird sich für ihn stark machen, denn sie will keinen Posten verlieren. Hierzulande tritt sowieso niemand nach einer Fehlleistung zurück." Die rechte Partei der nationalistischen Bewegung (MHP), der Durmus angehört, galt als Aufsteiger des Jahres. Im April war sie mit mehr als 18 Prozent der Stimmen ins Parlament gewählt worden. Eine nationale Gefühlswelle, ausgelöst durch die Festnahme von PKK-Chef Öcalan, hatte die Rechten nach oben gespült. "Jetzt zeigt sich, wie primitiv die Parolen von Blut und Erde sind", meint Ergil. "Die Rechten sagen zum Beispiel, ein Türke sei mehr wert als zehn Europäer. Aber mit solchen Sprüchen flickt man keine Straße, repariert man keine Stromleitung, verteilt man keinen einzigen Laib Brot." Nach Ansicht Ergils wird den Erdstößen am Marmarameer ein politisches Nachbeben folgen. Die Türken hätten ihren Glauben an die Allmacht des Staates verloren. "Bisher gab es eine stillschweigende Abmachung. Der Staat sagte: Kümmert euch um euer Privatleben, verhaltet euch ruhig. Ich gebe euch alles, was ihr braucht. Ihr mischt euch dafür nicht in die Politik ein." Jetzt stehe der Konsens in Frage. Nach dem Beben hätten viele begriffen, dass sie mit dem Staat "eine Kuh fütterten, die keine Milch gab, als sie die Milch dringend brauchten". (fh) |