Die Welt, 31.8.1999 Die erschütterte Türkei Leitartikel von Michael Stürmer Das Erdbeben, welches vor 14 Tagen das westliche Anatolien erschütterte, ließ nicht nur den Boden wanken. Seine sozialen und moralischen Nachbeben können das politische System, das viele Beben unerschüttert überstand, ins Wanken bringen. Führt das zu einer neuen Verbindung zwischen Militärautorität und liberaler Demokratie, so kann das den türkischen Weg nach Europa befördern. Führt es zu einer Stärkung der Islamisten, die eine ernst zu nehmende soziale Kraft sind, so wird das die Distanzen vergrößern. In den Zeiten des Ost-West-Konflikts war die Türkei wichtig als Südpfeiler. Sie wurde seither noch wichtiger, gelegen am Kreuzungspunkt aller politischen, kulturellen und strategischen Kräfte zwischen Asien und Europa. Washington will seit langem die Türkei durch Einbeziehung in das Europa der wohlhabenden industriellen Demokratien stabilisieren. Ungeachtet des Versprechens von 1963 und der amtlichen Aufnahme der Türkei in die Bewerberliste für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union haben sich die Europäer auf Hinhalten eingestellt. Dabei kommt den Europäern der raue türkische Umgang mit den Kurden und generell mit Menschenrechten insgeheim zupass. Doch gerade in Deutschland sollte man beim Betreten des höheren moralischen Geländes eingedenk der türkischen Asylpolitik für die Vertriebenen und Flüchtenden von 1933 Zurückhaltung üben. Das jüngste Großbeben hat die Menschen erschüttert, nicht nur wegen der Entsetzen hervorrufenden Zahl der Opfer, sondern mehr noch, weil schludriges Bauen und schleppende Rettung offenbar zur Ernte des Todes beitrugen. Zu den Folgen gehören Massentod und Legitimitätskrise des kemalistischen Staates. Denn eine Katastrophe dieser Art trägt, zumal im Nahen Osten, immer eine Botschaft vom Zorn Gottes mit sich, der sich gegen die Menschen richtet, noch mehr aber gegen ihre Regierer. So wird gepredigt, gefühlt und mit erbitterter Offenheit gezweifelt. Die moderne Türkei entstand, als der Erste Weltkrieg verloren ging, aus einigen Trümmerstücken des Osmanen-Reiches, die der Friedensvertrag von Sèvres 1920 das türkische "Versailles" lässig und nachlässig über die Landkarte des Mittleren Ostens verstreute. Der Staatsstreich des Generals Mustafa Kemal Pascha hatte danach nicht nur den erheblich korrigierten Friedensvertrag von Lausanne 1923 zur Folge, sondern auch die Entwicklung des türkischen Nationalstaats. Die außenpolitischen Erfolge, noch mehr aber die Revolution von oben, mit der "Atatürk" Vater der Türken die Menschen und das Land in die Moderne befahl, machten ihn zum Vater des Vaterlandes. Alles sollte modern, das heißt westlich werden: Lebensformen, Kleidung, Kalender, Schrift, Bildungswesen, Glaube und Staat. Dem "kranken Mann am Bosporus" wurde eine Heilungs- und Verjüngungskur verordnet, die bis heute, wie der Aufstieg des Islamismus zeigt, nicht abgeschlossen ist, sondern mehr und mehr infrage gestellt wird. Ein Max Weberscher Rationalstaat sollte entstehen, Preußen am Bosporus. Für Demokratie war in dem von ethnischen und kulturellen Klüften durchzogenen Land von Hause aus nicht viel Boden oder Bereitschaft. Die Legitimität sollte aus dem Stolz der Nation kommen, aus der Effizienz des Militärs, aus Industrialisierung und sozialem Ausgleich. Seit 1960 gab es drei Mal militärisches Eingreifen, 1997 zwang das Militär die erste islamistische Regierung in den Rücktritt, ohne dass Erschütterungen merkbar wurden. Das Erdbeben könnte ein Katalysator des Wandels sein. Die Türken haben Stolz. Es ist für sie doppelt demütigend, das Versagen der eigenen Leute angesichts der Katastrophe zu erleben, aber den effizienten Einsatz der Nachbarn, von Israel bis Deutschland. Leidensfähigkeit ist eine Stärke, aber Schicksalsergebenheit hat ihre Grenzen. Noch immer lebt die Türkei mit dem Erbe der Osmanen, das Atatürk zu überwinden suchte. Die Islamisten werden die Predigt vom Zorn Gottes sich nicht entgehen lassen und auch nicht die Chance, sich als gute Verwalter zu zeigen. Wahrscheinlich wird die Türkei nach einiger Zeit wieder ihr Gleichgewicht finden, das Militär die Dinge im Auge behalten, die Islamisten werden weiterarbeiten. Aber die politischen Nachbeben sind noch nicht zu Ende. |