junge Welt 1.10.1999 Türkei beantwortet Friedensinitiative mit Militäroffensive Über 220 Organisationen unterzeichneten Deklaration für politische Lösung des kurdischen Konflikts Mitte September gingen zahlreiche Gruppen in der Türkei mit einer Friedensinitiative an die Öffentlichkeit, in der konkrete Schritte zur Lösung des türkisch- kurdischen Konflikts unterbreitet wurden. Die im kurdischen Diyarbakir herausgegebene Deklaration zu Demokratie und Frieden enthält sieben Punkte, die einer politischen Lösung des seit vielen Jahren schwelenden Konflikts den Weg ebnen sollen. Nachdem es zuvor schon einen einseitigen Waffenstillstand der PKK, sogar das Ausrufen des Endes des bewaffneten Kampfes gegeben hatte, ergriffen nun über 220 Organisationen, darunter Berufsverbände, politische Parteien, Menschenrechtsgruppen und Gewerkschaften, ebenfalls die Initiative: In ihrer Deklaration, die in Deutschland u. a. vom Dialog-Kreis »Krieg in der Türkei - Die Zeit ist reif für eine politische Lösung« und von zahlreichen Personen unterstützt wird, appelliert das breite Bündnis verschiedener Gruppen und Organisationen an die türkische Regierung, eine öffentliche Diskussion zu den drängenden Problemen zuzulassen und Schritte hin zu Demokratie und Frieden einzuleiten. Dazu gehöre u. a., so die Deklaration, nicht länger die Gedanken- und Organisationsfreiheit einzuschränken. Außerdem müsse das Dorfschützersystem aufgehoben und eine sichere Rückkehr in die in den letzten Jahren vom türkischen Militär massenhaft geräumten Dörfer gewährleistet werden. Ferner sei eine Generalamnestie »unumgänglich«. Die beabsichtigte Amnestie, die »politische Delikte und >Gesinnungsdelikte< ausnimmt, könne keinen gesellschaftlichen Frieden« erzielen. Abschließend erklären die Unterzeichner, sie seien bereit, sich für eine »gerechte, friedliche und demokratische Lösung« in der Türkei einzusetzen: »Wir fordern, daß die Waffen schweigen, daß kein geschwisterliches Blut von Kurden und Türken mehr fließt (...), wir erklären, daß wir jede friedliche, gewaltfreie Initiative, die zur Lösung unserer gesellschaftlichen Probleme ergriffen wird, unterstützen«. Die Türkei hat den Gewaltverzicht der PKK und den nun von zahlreichen Initiativen unterstützten Aufruf zu Demokratie und Frieden auf ihre Weise beantwortet: Seit Beginn der Woche sind zum wiederholten Mal türkische Truppen in einer völkerrechtswidrigen Militäraktion auf irakisches Territorium vorgedrungen und attackieren dort die aus der Türkei abziehenden kurdischen Guerilleros. An dem Einmarsch im Nordirak sind nach Angaben türkischer Militärkreise 5 000 Soldaten beteiligt. Die Erfahrungen der letzten Jahre legen nahe, daß die tatsächliche Zahl der an dem Vormarsch beteiligten Soldaten erheblich höher liegen dürfte. Nach offiziellen Angaben sind auch Panzer und Cobra-Kampfhubschrauber im Einsatz. Außerdem erklärte der türkische Generalstab, die Armee werde solange kämpfen, »bis der letzte Terrorist neutralisiert« sei. Damit zeigt sich, daß sich bisher weder in der Rhetorik noch in der Praxis etwas an der Haltung türkischer Stellen geändert hat: In der Vergangenheit war auch schon mal von »Vernichtungsfeldzügen« und davon die Rede, daß »die Endlösung des Problems«, so die ehemalige türkische Ministerpräsidentin Ciller, bevorstehe. Vom deutschen Außenminister, dessen Parteikolleginnen und -kollegen zu Oppositionszeiten heftig gegen die Türkei-Politik der BRD protestierten und der alten Bundesregierung aufgrund immenser Waffenlieferungen »Beihilfe zum Völkermord« vorwarfen, liegt bisher keine Reaktion vor. Militärische Eskalation statt Schritte zu einer politischen Lösung und Schweigen der NATO-Partner: Für die kurdische Seite unverändert keine hoffnungsvollen Zeichen. Thomas Klein |