junge Welt 2.10.1999 Weil ein Staatsanwalt etwas gegen »Volkssport« hat Zwei Jahre ohne Bewährung für 25jährigen Kurden nach seiner Festnahme auf der LL-Demo in Berlin Murat Ö., angeklagt, auf der Liebknecht-Luxemburg- Demonstration am 11. Januar in Berlin eine Polizeibeamtin geschlagen und verletzt zu haben, war dafür bereits zu 18 Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Nach der Demonstration hatte er über zwei Monate in Untersuchungshaft gesessen. Sowohl die Verteidigung, die für Freispruch plädierte, als auch die Staatsanwaltschaft, die die Aufhebung der Bewährung forderte, gingen in Berufung. Im Berufungsverfahren, das am vergangenen Donnerstag und Freitag im Amtsgericht Tiergarten stattfand, drehte vor allem der Staatsanwalt auf: »Gerade in Berlin«, führte er in seinem abschließenden Plädoyer aus, »wird es ja fast zum Volkssport, sich mit der Polizei zu schlagen«. So könne es nicht weitergehen. Eine Bewährungsstrafe komme deshalb nicht in Frage. Der Angeklagte sei mit erheblicher krimineller Energie vorgegangen, und es komme erschwerend hinzu, daß er sich zur Tatzeit erst fünf Wochen in Deutschland aufhielt. Die Verteidigung hatte zuvor erneut auf die unzähligen Widersprüche in den Aussagen der beteiligten Polizisten hingewiesen. Gleich elf Beamte traten im Berufungsverfahren als Zeugen auf. Doch eigentlich hatte keiner so richtig etwas von dem Vorfall gesehen: Auf der Höhe der Frankfurter Allee 244 soll ein »kurdischer Block« Polizeikräfte der Direktionshundertschaft 15 eingeschlossen haben. Diese waren in den Block eingebrochen, um eine Person, die ein verbotenes Symbol gezeigt haben soll, herauszugreifen. Hans Wachter, Zugführer der betreffenden Einheit, schilderte: »Dann sind wir massiv von allen Seiten angegriffen worden.« Auf die Frage, woraus sich die Aggressivität der Demonstranten ergeben hätte, antwortete er: »Das ist die Mentalität der Kurden. Die stehen mit ihren Fahnen in der Hand voll hinter ihrem Freiheitskampf gegen die Türkei. Sie begehen Straftaten.« Die Richterin hakte nach: »Haben Sie denn Straftaten gesehen?« »Außer dem Zeigen der verbotenen Fahne keine.« Der 25jährige Murat Ö. soll in dieser Situation zweimal mit einer Fahnenstange und (!) einer Latte auf den Helm einer Polizistin eingeschlagen und sie dadurch schwer verletzt haben. Der beschädigte Helm wurde nach dem Ablichten in Reparatur gegeben und kann als Beweisstück nicht mehr in die Berufungsverhandlung eingebracht werden. Dafür gibt es eine abgebrochene Fahnenstange, von der niemand weiß, wer sie wo und wann eingesammelt hat. Murat Ö. wurde von hinzukommenden Polizisten, die den Hergang kaum gesehen haben können, als Täter ausgemacht und überwältigt. Drei Beamte stürzten ihn zu Boden und schlugen ihm dann - zugegebenermaßen - mit der Faust in das Gesicht, um ihm Handschellen anlegen zu können. Ein Verfahren gegen zwei der beteiligten Polizisten wegen Körperverletzung im Amt steht noch aus. So unterschiedlich die Beobachtungen der Zeugen auch waren, in einem waren sich alle einig: Schlagstöcke der Polizei waren zu keiner Zeit zu sehen. Im Gefangenentransporter haben zwar alle Zeugen Murat Ö. mit Gesichtsverletzungen und Handfesseln auf dem Bauch liegen sehen. Aber daß Beamte - wie Murat Ö. behauptet hatte - ihre Füße auf ihm abgstellt, ihn beschimpft und Apfelsinenschalen auf ihn geworfen haben, das haben sie übereinstimmend nicht gesehen. Polizeigewalt stand ja auch nicht zur Debatte, wie der Staatsanwalt in seinem abschließenden Plädoyer noch einmal verdeutlichte: »Die Verletzungen hat er (Murat Ö. - die Red.) sich selbst zuzuschreiben. Wer solche Straftaten begeht, muß damit rechnen, daß ihn die legitime Gewalt der Polizeikräfte trifft.« Murat Ö. traf nicht nur Polizeigewalt, sondern auch die Gewalt eines deutschen Gerichtes, das der Berufung der Staatsanwaltschaft folgte und ihn wegen Landfriedensbruch, versuchter und vollendeter Körperverletzung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilte. Die Verteidigung wird nun ein Revisionsverfahren anstreben. Wera Richter
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