jw, 5.10.
Todesfälle zu den Akten
Mindestens 35 Opfer bei Haft oder Abschiebung - keine Schuldigen gefunden
Vor vier Wochen starb in einer Arrestzelle der Justizvollzugsanstalt
Büren
(NRW) der 20jährige Abschiebehäftling Rachid Sbaai an den
Folgen eines von
ihm selbst gelegten Zellenbrandes. Die Umstände seines Todes werfen
nach
Ansicht des Vereins »Hilfe für Menschen in Abschiebehaft
Büren« zahlreiche
Fragen auf. »Die Angehörigen werden einen Strafantrag wegen
unterlassener
Hilfeleistung stellen«, kündigte Vereinssprecher Frank Gockel
gegenüber jW
an. Ungeklärt sei die Zündquelle, denn der Marokkaner habe
überhaupt kein
Feuerzeug besessen und sei vor Antritt der Arreststrafe einer
Leibesvisitation unterzogen worden. In der Zelle fehlten zudem Rauchmelder
und Sprinkleranlagen. Möglicherweise hat der 20jährige lange
Zeit Alarm
geschlagen. Denn ein Häftling, der sich in der Nachbararrestzelle
befunden
hat, habe den Alarmknopf in seiner Zelle gedrückt, weil er Schreie
gehört
und Brandgeruch wahrgenommen habe. Es hätte mindestens zehn Minuten
gedauert, bis Beamte vor Ort gewesen seien. »Wie ist es möglich,
daß der
Brand so spät bemerkt wurde«, will die Initiative wissen.
»Welche
Konsequenzen werden gezogen?«
Fragen, die der Verein Mitte September in einem Offenen Brief an den
Leiter
des Abschiebeknastes gestellt hat. »Den Prüfungen der zuständigen
Behörden
möchte ich nicht vorgreifen«, lautet die lapidare Antwort
von
Anstaltsleiter Peter Möller. In frühestens vier Wochen könne
man mit
Auskünften rechnen, ob ein »Drittverschulden seitens der
Anstaltsleitung«
auszuschließen ist, so ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Paderborn
auf
jW-Anfrage. »Da bislang nicht einmal die Zellennachbarn von Rachid
verhört
worden sind, rechnen wir nicht mit einer Anzeige«, sagt Gockel.
»Die legen
die Sache zu den Akten«.
Immer wieder kommen Flüchtlinge in Abschiebehaft oder während
ihrer
Abschiebung zu Tode. Mindestens 35 Todesfälle hat Pro Asyl seit
Mai 1993
gezählt. Die Ermittlungen der örtlichen Behörden über
die konkreten
Todesumstände verlaufen meistens im Sande, mögliche Schuldige
kommen
ungeschoren davon. »Bei Tod in Abschiebehaft oder während
einer Abschiebung
ist es bislang noch nie zu einer Verurteilung eines Behördenvertreters
oder
eines BGS-Beamten gekommen«, berichtet Pro-Asyl Sprecher Karl
Kopp.
Viele Fragen sind auch bezüglich der lebensgefährlichen Verletzung
eines
algerischen Flüchtlings offen, der Anfang September in Steinen
bei Lörrach
(Baden-Württemberg) abgeschoben werden sollte. Zweimal hatte ein
Polizist
auf den unbewaffneten 41jährigen geschossen. Die fünfköpfige
Familie war
1992 nach Deutschland gekommen, ihre Anträge auf Asyl wurden abgelehnt.
Die
örtliche Polizei sollte die Abschiebung vollziehen.
Was sich an jenem Mittwoch morgen zugetragen hat, ist bis heute unklar.
Teilten die Behörden zunächst mit, der Beamte habe in »Notwehr«
auf den
Vater geschossen, lautet die aktuelle Version, der Ordnungshüter
habe
»Nothilfe« leisten wollen, weil der Flüchtling sich
aus dem Fenster des
vierten Stocks in die Tiefe stürzen wollte.
Völlig neu sei, »daß ein Flüchting aus Schutz
vor sich selbst erschossen
werden kann«, bemerkt das Südbadische Aktionsbündnis
gegen Abschiebungen
(SAGA). »Wir fordern, daß gegen den Polizisten ermittelt
wird und nicht
gegen den Flüchtling«, kritisiert SAGA- Sprecher Christian
Möller gegenüber
jW. Auch der Anwalt des Algeriers, der frühere Landes-Justizminister
Rudolf
Schieler, hat Strafanzeige wegen schwerer Körperverletzung gegen
den
Polizisten gestellt. Derweil droht die Abschiebung der Familie, denn
ihre
Duldung lief am 1. Oktober aus.
Martin Höxtermann
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