Frankfurter Rundschau 7.10.1999 Kein Ausweg aus der türkischen Sackgasse Im Europäischen Parlament schlug zur Frage des Beitrittsstatus der Türkei die Stunde der Wahrheit Von Martin Winter (Straßburg) Auch die Stunde der Wahrheit nähert sich gelegentlich nur zögerlich und auf Umwegen. Zwei Tage lang hatten die Fraktionen im Europäischen Parlament hektisch hinter den Kulissen nach einem komfortablen Ausweg aus der türkischen Gasse gesucht. Am Dienstagabend sah es so aus, als ob der bewährte Rückgriff auf die Wortklauberei wieder einmal funktionieren würde. Doch die zwischen Konservativen, Sozialisten, Grünen und Liberalen mühsam zustande gebrachte gemeinsame Resolution war am Mittwochmorgen nicht mehr das Papier wert, auf das sie gedruckt war. Es blieb Hans-Gert Pöttering, dem Vorsitzenden der konservativen Partei (EVP), vorbehalten auszusprechen, was viele denken, aber sich nicht zu sagen wagen. "Wir sind überzeugt, dass eine Mitgliedschaft der Türkei der EU wirtschaftlich, politisch und kulturell eine andere Qualität geben würde." Auf gut Deutsch: Für die Türkei darf es "keine Beitrittsperspektive" geben, wie es in der Fraktion der EVP hieß. Eine klare Absage an die Absicht von EU-Kommission und Europäischem Rat, der Versammlung der Staats- und Regierungschefs, der Türkei auf dem EU-Gipfel im Dezember in Helsinki den förmlichen Beitrittsstatus zu geben. So war die Suche nach einem Formelkompromiss unversehens zum Katalysator für eine "Stunde der Wahrheit" geworden, von der der Erweiterungskommissar Günther Verheugen am Ende der Debatte ahnungsvoll sprach und von der viele glauben, dass sie längst fällig ist, weil die EU sich immer mit halbgaren Versprechen und Andeutungen um eine klare Antwort auf die Frage herumgedrückt hat, ob man die Türkei in der Union haben will oder nicht. Dass diese Debatte nun auf dem Tisch liegt, ist einer Formulierung zu verdanken, die die Sozialisten (PSE) in die Resolution gedrückt hatten, wonach eine Mitgliedschaft der Türkei ein "wichtiger Beitrag für die künftige Entwicklung der EU und für Frieden und Sicherheit in Europa" sein würde. Darüber war die EVP gestolpert. Zwar hatte der Beschlussentwurf den von Kommission und Rat gewünschten Begriff "Kandidatenstatus" vermieden, aber ganz im Regen stehen lassen wollte die PSE den Rat doch nicht, vor allem wohl nicht die deutsche Regierung, die seit Monaten darauf drängt, die Türkei in die Riege der Beitrittskandidaten aufzunehmen. Doch auch in den Reihen der PSE gibt es ein leichtes Unwohlsein bei der Vorstellung, dass der Türkei die Tür zur EU geöffnet wird. Man werde zur Zeit "weder Ja noch Nein" zum Kandidatenstatus sagen, teilte der Sprecher der PSE in dieser Frage, der Abgeordnete Johannes Swoboda, mit. Und für die Grünen wand sich der deutsche Abgeordnete Ozan Ceyhun, der als Zwanzigjähriger vor der türkischen Militärdiktatur geflüchtet war. Er persönlich sei für eine Erhebung seines ehemaligen Heimatlandes zum Kandidaten, doch in seiner Fraktion gebe es dafür noch keine Mehrheit. Verheugens Argument, es gehe doch gar nicht darum, der Türkei eine "Beitrittsperspektive" zu eröffen, da sie diese ja schon durch mehrfachen Beschluss der EU habe, bestätigt zuletzt vom 1997er EU-Gipfel in Luxemburg, sondern nur um eine "taktische Veränderung" war, tauben Ohren gepredigt. Schließlich hatte er selber die Politik der Kommission mit großen historischen Pinselstrichen koloriert. Es gehe um Glaubwürdigkeit und Vertrauen, um Sicherheit und um Hilfe beim Anschieben eines Demokratisierungsprozesses in der Türkei. Angesichts der strategischen Bedeutung der Türkei für Europa wäre es ein "schwerer Fehler", das Land nicht in die Reihe der Beitrittskandidaten aufzunehmen. Wer die Hürde so hoch legt, sollte sich nicht wundern, wenn mancher drunter herläuft, auch wenn es am Schluss dann doch eine ganz knappe Mehrheit für die Formulierung der PSE gab, die dem Gipfel zumindest Spielraum verschafft. Dass es so eng wurde, liegt daran, dass die Kommission offensichtlich die Stimmung im Parlament falsch eingeschätzt hat. Immer schon türkeiskeptischer als die Regierungschefs, haben die Abgeordneten zwar vielem zugestimmt, nicht zuletzt der Zollunion mit der Türkei. Doch diesem Land den Kandidatenstatus zu geben, was nach landläufiger Auffassung die Eintrittskarte zum Klub ist, stellt eine neue Qualität dar, und die ist kaum mit der Bemerkung zu verniedlichen, dass es nur eine taktische Weiterentwicklung in einer längst allgemein gültigen Strategie sei. Kommission und Rat seien mit der Kandidatengeschichte "auf dem falschen Trip", sagt Elmar Brok (EVP), der einflussreiche Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des Parlaments. Zweifel an der Weisheit der Erhebung der Türkei zur offiziellen Kandidatin hegt auch Broks sozialdemokratischer Kollege und ehemalige Parlamentspräsident Klaus Hänsch. Ihm schwant: "Das wird noch schlimmer als Luxemburg." Luxemburg. Das Herzogtum ist zum Synonym für die Eiszeit zwischen Brüssel und Ankara geworden. Dabei waren die Staats- und Regierungschefs der Union dort im Dezember 1997 mit dem durchaus guten Willen zusammengekommen, die Türkei nicht von der europäischen Entwicklung abzukoppeln. Da es keine Mehrheit für eine Einreihung der Türkei in die Riege der bei dieser Gelegenheit zu Beitrittskandidaten erklärten Länder Mittel- und Osteuropas gab, wurde ihr ausdrücklich bestätigt, erstens ein europäisches Land zu sein und zweitens bei Erfüllung der Voraussetzungen einen Anspruch auf Mitgliedschaft in der EU zu haben. Eine, wenn auch freundliche Sonderbehandlung für die Türkei also, die, obwohl seit 1963 mit der EU assoziiert, nun den Balkan an sich vorbeiziehen sieht. Anstatt dies trotzdem als eine politische Chance zu begreifen, spielte die damalige türkische Regierung voll die nationalistische Karte, sprach von Diskriminierung und stellte das Gespräch mit der EU ein. Das ging relativ gefahrlos, weil Ankara sich einerseits darauf verlassen konnte, dass die USA, die in der Türkei militärstrategische und Öl-Interessen haben, die EU-Regierungen unter Druck setzen würden. Und andererseits spekulierte Ankara darauf, dass die Europäer aus ökonomischen wie sozialen Gründen - immerhin arbeiten mehrere Millionen Türken in der EU, vor allem in Deutschland - bald nachgeben würden. Das erklärte Ziel der Türkei war und ist ihre Gleichstellung mit anderen Kandidaten, in Worten wie in Taten, was bedeutsam ist, weil es hier auch um Geld geht. Man wolle eben "nicht diskriminiert" werden und erwarte, Finanzmittel zur Vorbereitung auf den Beitritt zur Verfügung gestellt zu bekommen, schrieb der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit am 26. Mai dieses Jahres an den deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Dessen Argumente decken sich im wesentlichen mit denen Verheugens und Ceyhuns: Man müsse die demokratische Reformbewegung in der Türkei mit der Aussicht auf eine volle Integration in die EU unterstützen. Diesem Argument wird aus dem konservativen Lager allerdings entgegengehalten, dass mit ihm immer wieder Programme für die Türkei beschlossen wurden, zuletzt die Zollunion, und man nie Erfolge in Richtung Demokratisierung gesehen habe. Wenn es dem Rat aber in erster Linie darum gehe, der Türkei das Gefühl diskriminierender Sonderbehandlung zu nehmen, dann sei die Kandidatenrolle ein denkbar ungeeignetes Instrument, glaubt Klaus Hänsch. Denn nach Helsinki, wo mit allen anderen Kandidaten Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden sollen, würde die Türkei sich als Kandidat ohne Beitrittsverhandlungen erneut in einem "virtuellen Status" wiederfinden, den sie je nach politischer Laune wieder als Diskriminierung empfinden könnte. Rumänien und Bulgarien wären dann wieder an ihr vorbeigezogen. Luxemburg hoch zwei eben. |