Frankfurter Rundschau 11.10.1999 Selbstmordgefahr verhindert Abschiebung nicht Tunesier soll nach zwei Jahrzehnten in Frankfurt nicht länger bleiben dürfen / Ärzte warnen vor möglichem Suizid Von Jürgen Schenk Nach 20 Jahren Aufenthalt in Frankfurt droht dem 42-jährigen Tunesier Mohamed Kahli die Abschiebung in sein Herkunftsland, in dem er keinerlei Wurzeln mehr hat. Nach dem Urteil seiner Ärztinnen und des Stadtgesundheitsamts besteht im Fall einer zwangsweisen Rückführung Selbstmordgefahr. Ein Nervenarzt des Landesversorgungsamts, den das hessische Innenministerium 1998 als Obergutachter beauftragt hatte, fegte die Stellungnahmen seiner Kolleginnen nach Ferndiagnose des 42-Jährigen vom Tisch: Mohamed Kahli sei "unter Sicherheitsvorkehrungen reisefähig". Kahli, der seit elf Jahren mit unbefristeter Arbeitserlaubnis zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten als Kanalbetriebsarbeiter beim Stadtentwässerungsamt seinen Lebensunterhalt verdient, ist völlig verzweifelt: "Wenn die Polizei mich zu Hause zur Abschiebung abholen will, dann wird dies nicht gehen, weil ich dann schon tot bin." Im Februar 1979 reist Kahli als Tourist ein und stellt kurz nach seiner Ankunft einen Asylantrag: Er habe für die Libyer gearbeitet und sei deswegen in seiner Heimat verfolgt worden. Das Asyl wird ihm versagt. Anfang 1986 fordert ihn die Ausländerbehörde erstmals zur Ausreise auf. Zur Abschiebung kommt es nicht, da Khali keinen gültigen Pass mehr hat. 1987 lernt er eine deutsche Frau kennen und heiratet sie. Die Ausländerbehörde erteilt ihm eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis. Die Ehe scheitert nach einem Jahr. Die Behörde verkürzt daraufhin die Erlaubnis nachträglich um ein Jahr, obwohl sie nicht davon ausgeht, dass der Tunesier eine Scheinehe abgeschlossen hatte, um hier seinen Aufenthalt zu sichern. Kahli - inzwischen im Besitz einer unbefristeten Arbeitserlaubnis und in Diensten des Stadtentwässerungsamtes - stellt 1990 einen Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung. Rund drei Jahre lang erhält er von der Ausländerbehörde jeweils auf drei Monate befristete Duldungen, bis ihm schließlich mitgeteilt wird, man beabsichtige, seinen Antrag abzulehnen. Unterstützt von einem Anwalt reicht Kahli eine Petition beim Hessischen Landtag ein. Zunächst erhält er weiter Duldung. 1996 weist der Petitionsausschuss seine Eingabe zurück: Bei ihm handele es sich um keinen Härtefall. Die Ausländerbehörde folgt der Ablehnung aus Wiesbaden. Kahli strengt ein Eilverfahren beim Verwaltungsgericht an. Sein Anwalt betont, der Tunesier habe "seinen sozialen und persönlichen Lebensmittelpunkt in Frankfurt", sei nicht straffällig geworden und das Stadtentwässerungsamt wolle nicht auf seine Mitarbeit verzichten. "Der Mann ist hier verwurzelt", argumentiert der Anwalt. "Einen alten Baum verpflanzt man ja auch nicht von Deutschland nach Afrika." All dies fruchtet nichts. Auch das Verwaltungsgericht sieht keinen Härtefall, der eine humanitäre Entscheidung rechtfertigen könnte. Dass das Stadtentwässerungsamt Kahli behalten wolle, begründe kein öffentliches Interesse an dessen Verbleib in Deutschland. Der Verwaltungsgerichtshof in Kassel nimmt die Beschwerde des 42-Jährigen gar nicht erst an. Bereits zum damaligen Zeitpunkt weist sein Anwalt Behörden und Gerichte darauf hin, dass die Ärzte Mohamed Kahli somatische Erkrankungen in Folge seiner beklemmenden Situation attestiert haben. Der Tunesier wird Anfang 1998 amtsärztlich - unter anderem auch psychiatrisch - untersucht. Ergebnis der Mediziner des Amtes: "Es besteht eine reaktive Depression mit multiplen psychosomatischen Störungen, Ängsten und dauerhaften Suizid-Gedanken. Seine Andeutungen, im Fall einer Abschiebung seinem Leben ein Ende zu setzen, sind ernst zu nehmen." Aufgrund seiner psychischen Krankheit sei er für die nächsten Jahre nicht reisefähig. Der entscheidende Beitrag zu einer Stabilisierung könne mit Sicherheit eine Aufenthaltserlaubnis auf Dauer sein. In gleicher Weise äußern sich Kahlis Hausärztin und eine Neurologin, die den 42-Jährigen eingehend untersucht haben. Diese Mühe macht sich ein Nervenarzt des Landesversorgungsamtes, den das Innenministerium um Stellungnahme zu dem Fall gebeten hatte, nicht. Der Tunesier, so seine Ferndiagnose, leide "nicht an einer seelischen Erkrankung aus innerer Ursache heraus". Dessen Zustand sei vielmehr "reaktiv als Folge eines über Jahre hinweg in Schwebe gehaltenen existenziellen Konflikts zu sehen". Durch ständige und wiederholte Selbstmorddrohungen versuche Kahli, eine Abschiebung zu verhindern. Fazit des Gutachters: Unter Sicherheitsvorkehrungen könne man den 42-Jährigen in ein Flugzeug nach Tunesien setzen. Kahlis Gesundheitszustand hat sich nach Einschätzung seiner Ärztinnen zwischenzeitlich weiter verschlechtert. Seinem Anwalt gelingt es vor wenigen Tagen, durchzusetzen, dass die Ausländerbehörde alle - auch die jüngsten - Atteste an das Innenministerium in Wiesbaden schickt. Sein Ziel: Kahli soll noch einmal amtsärztlich untersucht werden. Dafür spricht sich auch der stellvertretende Leiter der Ausländerbehörde, Heiko Kleinsteuber, gegenüber der FR aus: "Ich möchte ungern jemand in den Tod schicken." Sollte aber das Gutachten des Landesversorgungsamtes bestätigt werden, führe an einer Abschiebung kein Weg vorbei. "Die Drohung mit Selbstmord reicht nicht aus, um eine Aufenthaltsverlängerung zu erreichen." Man müsse darauf achten, keine Präzedenzfälle zu schaffen. Das nervenzermürbende Warten und Hoffen auf eine für ihn positive Entscheidung geht für Mohamed Kahli weiter. Kleinsteuber hält für ihn einen recht schwachen Trost bereit: Vor Weihnachten sei wahrscheinlich nicht mit einer Abschiebung zu rechnen. |