Frankfurter Rundschau 14.10.1999 Die Gruppendynamik sinkt, das Tempo steigt Nicht zuletzt als Lehre aus dem Kosovo-Krieg drängt die Brüsseler Kommission bei der EU-Erweiterung zur Eile Von Martin Winter (Brüssel) So viel wie an diesem Mittwoch war in der EU-Kommission wohl selten die Rede von Historie. Man habe eine "historische Chance", man stehe vor einer "historischen Herausforderung", und man habe es mit einer "historischen Verantwortung" zu tun. Da nahm es nicht Wunder, dass am Ende ein gewaltiger Schritt auf dem Wege der Ausdehnung der EU nach Osten und Südosten beschlossen wurde. Schon lange quält die fünfzehn Unionsmitglieder das unangenehme Gefühl, vor zwei Jahren einen Fehler gemacht zu haben. Damals waren die Interessenten, die sich vor der Tür der EU drängeln, in unterschiedliche Gruppen eingeteilt worden. In der Praxis zeigt sich, dass zum Beispiel die sechs der ersten, bevorzugten Gruppe - Polen, Ungarn, Tschechien, Zypern, Slowenien und Estland - nicht so gleichmäßige Fortschritte in der Übernahme der EU-Standards machen, dass man sie gemeinsam aufnehmen könnte. Und die in Gruppe zwei, mit denen noch nicht verhandelt wird - Lettland, Litauen, Slowakei, Bulgarien, Rumänien und Malta - fühlen sich nicht nur zurückgesetzt, sondern scheinen mangels Anreizen aus Brüssel im Reformtempo nachzulassen. Die von Erweiterungskommissar Günter Verheugen (SPD) vorgelegten Zwischenberichte über die bereits laufenden Verhandlungen bieten ein eher ernüchterndes Bild, auch wenn er in der Kurzanalyse sagt, die erste Gruppe sei "dicht beisammen". Vor allem Polen und Tschechien wird vorgehalten, nur nachlässig EU-Regeln in die nationalen Gesetzbücher zu übernehmen. Damit fällt Prag, dem man vor zwei Jahren noch den Spitzenplatz zurechnete, beim Rennen um die Mitgliedschaft ein Stück zurück; auch Warschau liegt nicht gut, während Ungarn ein zufriedenstellendes Bild abgibt. Alles in allem seien die Ergebnisse eher "mittelmäßig", heißt es in Brüssel. Diese Erkenntnis und der Wunsch, die anderen Bewerber nicht zu lange warten zu lassen, leiten eine neue Politik ein: Indem mit allen verhandelt wird, wird mit jedem einzeln verhandelt. Von nun an soll nicht mehr nach Gruppenzugehörigkeit, sondern nach Fortschritt bei der ökonomischen, politischen und juristischen Annäherung an die EU vorgegangen werden. In der Praxis heißt dies, dass es an jedem Land allein liegt, durch Reformen zu bestimmen, wann es EU-fähig ist. Rabatte sollen keinem gegeben werden, betonte Verheugen. Auch die Zusage von festen Beitrittsdaten, die einige Länder gewünscht hatten, wird es nicht geben. Die Kommission will über Termine erst dann mit einzelnen Kandidaten reden, wenn deren Fortschritte so nachhaltig sind, dass dies Sinn macht. Vor 2002 wird die Kommission allerdings auf keinen Fall über Beitrittsdaten reden, weil sie nach eigener Einschätzung bis dahin braucht, die Institutionen der EU so zu reformieren, dass sie die Aufnahme weiterer Mitglieder überhaupt verkraften können. Trotz dieser politischen wie institutionellen Hindernisse, die für manche Bewerber auf lange Jahre hinaus unüberwindbar sein werden, hat die Kommission eine dynamische und offensive Erweiterungspolitik eingeleitet, die vom EU-Gipfel im Dezember in Helsinki vermutlich abgesegnet werden wird. Der erhöhte Druck und das neue Tempo bei den Erweiterungsverhandlungen ist nicht zuletzt ein Produkt des Kosovo-Krieges. Der habe gelehrt, dass die Ausdehnung der EU das beste verfügbare Mittel gegen lokale Kriege sei, von denen Europa bedroht werde, heißt es sinngemäß bei Verheugen. In der Konsequenz wird auch den Balkanländern ein Platz in der EU in Aussicht gestellt. Und weil die EU Sicherheitsbedürfnisse nach Südosten hat, bekommt nun auch die Türkei den so lange begehrten Kandidatenstatus.
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