Tagesspiegel, 20.10.99 Türkischer Premier kritisiert türkische Justiz Der Staatsanwalt sei im Falle einer Islamistin zu weit gegangen - Mitten in der Nacht zum Verhör herausgeklingelt Thomas Seibert Nuh Mete Yüksel ist es nicht gewohnt, sich bei seinem Kampf gegen angebliche und tatsächliche Feinde des türkischen Staates Kritik von der Regierung anhören zu müssen. Doch diesmal ist der Staatsanwalt am Staatssicherheitsgericht Ankara selbst für den Geschmack von Ministerpräsident Bülent Ecevit zu weit gegangen. "Im höchsten Maße befremdlich" sei es gewesen, dass Yüksel mitten in der Nacht an der Wohnungstür einer Dame zum Verhör aufgetaucht sei, sagte Ecevit am Dienstag. Bei der Dame handelt es sich um Merve Kavakci, eine 30-jährige islamistische Politikerin, die das laizistische Establishment gegen sich aufgebracht hatte, indem sie mit Kopftuch im Parlament erschien. Yüksel ermittelt wegen des Verdachts der Volksverhetzung gegen sie. Doch durch die Nacht-und-Nebel-Aktion des Staatsanwalts haben die umstrittene Politikerin und die Islamisten überraschend Oberwasser bekommen. Am Montagabend schickte Yüksel zunächst Beamte der Anti-Terror-Polizei zu Kavakcis Wohnung in Ankara. Die junge Abgeordnete ließ die Polizisten aber nicht herein, schickte ihre beiden Kinder und ihre Großmutter zu Verwandten und verbarrikadierte sich. Vor ihrer Tür bildete sich eine wahre Belagerung durch Polizei und Journalisten. Im Laufe des Abends erschienen mehrere prominente Abgeordnete der islamistischen Tugendpartei, um Kavakci beizustehen. Schließlich tauchte Yüksel auf und versuchte, sich zwecks Verhörs Zutritt zu der Wohnung der Politikerin zu verschaffen - vergeblich. Ohne Gerichtsbefehl lasse sie niemanden hinein, ließ Kavakci ausrichten. Dabei war Yüksel, der schon die Ermittlungen im Fall von PKK-Chef Abdullah Öcalan leitete, im Rahmen seiner Ermittlungen gegen Kavakci schon weit gekommen. Vergangene Woche hatte er ein Ausreiseverbot für die Islamistin durchgesetzt und wollte die Politikerin jetzt durch ein Verhör mitten in der Nacht demütigen. Yüksels Ziel war es, an Kavakci ein Exempel zu statuieren. Ihre türkische Staatsbürgerschaft hatte die streitbare Abgeordnete, die auch einen US-Pass besitzt, schon nach ihrem Kopftuch-Auftritt im Plenum Anfang Mai verloren. Damals war Ecevit als unerbittlicher Gegner Kavakcis aufgetreten und hatte ihr vorgeworfen, "den Staat herauszufordern". Das Kopftuch gilt in der Türkei als das Symbol der Islamisten überhaupt. In staatlichen Gebäuden ist das Kopftuch-Tragen deshalb verboten; im Parlament ist es zwar nicht ausdrücklich verboten, doch das hinderte Ecevit und seine Parteifreunde im Mai nicht daran, Kavakci mit lautstarken Protesten aus dem Plenum zu jagen. "Wir hatten das Problem Merve Kavakci doch im Parlament gelöst", sagte Ecevit deshalb am Dienstag. Zu weiteren juristischen Maßnahmen bestehe kein Anlass, meinte der Premier, der offenbar eine Sympathie-Welle für die Islamisten befürchtet. Auch Staatspräsident Demirel, wie Ecevit über jeden Verdacht der Nähe zu den Islamisten erhaben, mahnte zur Einhaltung rechtsstaatlicher Maßstäbe. Die Islamisten genossen diese Kritik an Yüksel in vollen Zügen; schließlich liegen sie mit der Justiz im Dauerclinch und ziehen dabei meist den Kürzeren. Unter donnerndem Applaus der Abgeordneten rief Parteichef Kutan in einer Fraktionssitzung: "Die Türkei ist ein Rechtsstaat, und kein Haufen hergelaufener Wilder." Yüksel selbst wollte sich zur verbalen Abreibung durch Ecevit nicht äußern. Er habe die Meinung des Herrn Ministerpräsidenten nicht zu kommentieren, sagte er - und ließ die Anti-Terror-Polizei vor Kavakcis Haus abziehen. |