Tagesspiegel, 23.10.99 Demo-Stau Innensenator Werthebach will die Versammlungsfreiheit einschränken, damit der Verkehr frei fließen kann - Sieben Kundgebungen pro Tag in Berlin Cay Dobberke Mal ziehen 14 000 bei der "Hanfparade" durchs Brandenburger Tor, mal protestieren dort 50 000 gegen die Sparpolitik. Am Mittwoch waren es 15 Brandenburger, die zu hohe Abwassergebühren beklagten und von Damsdorf zum Reichstag marschierten: Immer mehr Demonstrationen verursachen Staus in der Innenstadt und verärgern Händler, die Umsatzeinbußen hinnehmen müssen. Die Polizei erwartet in diesem Jahr eine Rekordzahl an Kundgebungen. Gestern forderte Innensenator Eckart Werthebach (CDU) deshalb eine "ernsthafte Diskussion" über Einschränkungen der Versammlungsfreiheit. Er frage sich, ob zentrale Orte der Stadt wegen einer "exzessiven Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit durch Minderheiten" versperrt werden dürften, sagte Werthebach. Derzeit gibt es pro Tag durchschnittlich sieben Kundgebungen. Bis Ende September zählte die Polizei bereits 1945 angemeldete Versammlungen, die meisten davon in der City. Die Zahl der Demonstrationen liegt damit schon jetzt höher als im gesamten Vorjahr (1854). Sogar die ungewöhnlich hohe Zahl von Kundgebungen vor zwei Jahren (2219) werde in diesem Jahr wohl übertroffen, schätzte ein Polizeisprecher. Bisher sieht der Innensenator seine Hände gebunden: Die polizeiliche Versammlungsbehörde könne eine Demo nur verbieten oder Auflagen erteilen, wenn von ihr eine "unmittelbare und gegebenenfalls vor Gericht konkret nachzuweisende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeht". Werthebach äußerte "Zweifel, ob diese höchstrichterlich bestätigte Rechtsauffassung für Großstädte in gleichem Maß angemessen ist wie für vereinzelte Demonstrationen in ländlichen Gebieten". Der Senator zog auch Vergleiche mit Paris und London: "Man stelle sich einmal vor, der Eiffelturm oder die Tower Bridge würden regelmäßig weiträumig abgesperrt!" Eine Sprecherin des Senators teilte ergänzend mit, dass es nicht um Verbote gehe, sondern um Einschränkungen des Rechts, den Versammlungsort frei zu wählen. Freilich gebe es auch Veranstaltungen, bei denen der Demo-Status fragwürdig sei - zum Beispiel die "Blade Night", bei der in der Sommersaison je etwa 30 000 Skater durch die City rollten. Werthebach möchte das Thema gegebenenfalls in Koalitionsverhandlungen mit der SPD erörtern. Doch deren Abgeordnetenhaus-Fraktion kündigte bereits Widerstand an: "Mit uns ist da nichts zu machen", sagte die sicherheitspolitische Sprecherin Heidemarie Fischer. Auch Werthebachs Vorgänger Jörg Schönbohm habe schon einmal ähnliche Ideen geäußert. Die Versammlungsfreiheit sei aber vom Grundgesetz geschützt. Zudem "muss ich mich schon sehr wundern, wenn Herr Werthebach von Minderheiten spricht". Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die am Dienstag demonstriert hatten, könne er wohl kaum meinen. Einschränkungen der Ortswahl könnten nach Meinung der SPD-Politikerin dazu führen, dass "unliebsame Demos an den Stadtrand gedrängt werden". Es könne auch nicht sein, dass der Senat das Brandenburger Tor "für Filmaufnahmen und andere kommerzielle Zwecke" absperren lasse, demokratische Meinungsäußerungen aber begrenze. Nötig seien "vernünftige Verkehrskonzepte" für die City. Beifall bekommt Werthebach dagegen von der Händlergemeinschaft AG City, die seit langem Kritik an den bis zu 25 Demonstrationen pro Jahr auf dem Kurfürstendamm und der Tauentzienstraße übt. In diesem Jahr protestierten dort unter anderem 5000 HBV-Gewerkschafter, 1000 Hausärzte, 3000 Bauern mit Traktoren, mehrmals einige tausend Kurden sowie 1000 "Frauen und Kinder für den Frieden". Ausgerechnet an "langen Sonnabenden" und anderen verkaufsstarken Tagen gebe es in der westlichen Innenstadt viele Kundgebungen. Geschäftsschädigend seien dann Radio-Verkehrshinweise wie: "Umfahren Sie die City weiträumig." |