Stuttgarter Zeitung, 22.10.99 Panzer als Exportschlager Es geht um Milliarden, es geht um Moral, es geht um Menschenrechte. Also gibt es Streit. Wozu um alles in der Welt braucht die Türkei 1000 neue Panzer? Das Land hat mehr als genug Schulden. Jedes Jahr hat der mörderische Kleinkrieg im Osten des Landes zwischen der türkischen Armee und der terroristischen Kurdenorganisation PKK Milliarden verschlungen. Und jetzt, da der eiskalte Winter einzieht, leben noch immer rund 100000 Erdbebenopfer in Zeltlagern. Dabei hatte doch Staatspräsident Demirel den Opfern versprochen, dass für alle rechtzeitig winterfeste Fertighäuser gebaut würden. Es ist nichts daraus geworden. Der Tourismus ist in diesem Jahr eingebrochen. Die Devisen fehlen. Aber Panzer wollen sie haben - ausgerechnet! Die Fragen an die Türkei sind berechtigt. Sie gehen trotzdem in die Irre. Das Land muss selbst seine Prioritäten setzen. Deutschland ist nicht der Vormund der Türkei. Die Türkei ist Nato-Partner, sie sichert die gefährdete Südostflanke des Bündnisses. Wenn es denn je zu einem Zusammenstoß der westlichen Zivilisation mit fundamentalistischen Kämpfern aus der islamischen Welt kommen sollte, dann spielt die Türkei eine zentrale strategische Rolle. Aus diesem Grund sehen die USA in dem Land einen existenziell wichtigen Verbündeten. Sie schließen die Augen vor allen Menschenrechtsverletzungen und drängen die Europäische Union, die Türkei als Mitglied aufzunehmen. Darum aber geht es auf absehbare Zeit nicht. Ja, es ist äußerst unwahrscheinlich, dass die Türkei jemals Mitglied der Europäischen Union werden wird. Selbst wenn der Staat am Bosporus irgendwann einmal alle Forderungen der EU erfüllen, wenn er eine mustergültige Demokratie aufbauen und sich zu einem überzeugenden Hüter der Menschenrechte wandeln sollte, hätte die Türkei kaum eine Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Und das noch nicht einmal, weil es ein zutiefst islamisch geprägtes Land ist. Nein, es ist die außerordentlich schnelle Zunahme seiner Bevölkerung, welche die Chancen der Türkei zerstört, EU-Mitglied zu werden. Wäre die Türkei heute in der EU, so wäre es nach seiner Bevölkerung das zweitgrößte Land nach Deutschland. Und die Bevölkerung wächst anders als in den europäischen Ländern schnell weiter. Da würden sich die Gewichte in der Europäischen Union auf eine Weise verschieben, die niemand will, die niemand wollen kann. Aber es gibt Wahrheiten, die in der Politik niemals ausgesprochen werden. Gerade die rot-grüne Koalition aber drängt die EU dazu, die Türkei als offiziellen Beitrittskandidaten zu behandeln. Kann die deutsche Regierung einerseits als Fürsprecher des Landes in der EU auftreten, andererseits aber den Export von Panzern an den Nato-Partner verhindern? Kann die rot-grüne Regierung ausgerechnet in einem Augenblick, da die PKK mehrfach glaubwürdig angekündigt hat, sie werde den bewaffneten Kampf einstellen, die türkische Regierung vor den Kopf stoßen, indem sie keine Waffen mehr an den Verbündeten liefert? Kann man dem Land im Ernst einen Panzer als Muster ohne Wert liefern? Sodass sich die Türken zwar davon überzeugen können, dass der Leopard II in der Tat der beste Panzer der Welt ist, dass ihn die Türken aber nicht haben dürfen, auch wenn sie ihn wollten? Nein, wer versucht, auf die Türkei Einfluss zu nehmen, der muss das Land als ernsthaften Partner behandeln. Die Zukunft liegt in einer guten Nachbarschaft zwischen der EU und der Türkei. Mit einer solchen Perspektive kann man auch über Menschenrechte sprechen. Dann kann man nach der Verwurzelung der Demokratie und der Toleranz fragen. Umgekehrt wird die Entwicklung der Türkei zu einem toleranten Rechtstaat keineswegs gefördert, wenn ausgerechnet Deutschland als wichtigster Verbündeter in Europa die türkische Staatsführung, die türkische Armee vor den Kopf stoßen sollte. Berlin begäbe sich in einem solchen Fall sämtlicher Möglichkeiten, auf Ankara jemals noch Einfluss zu nehmen. Wie man es dreht und wendet: Eine Verweigerung des Waffenexportes würde allein den Konkurrenten nutzen. Es geht ja nicht nur auf der türkischen Seite um viel Geld. Auch für Deutschland wäre ein Auftrag von 14 Milliarden Mark keine Kleinigkeit, zumal mehrere tausend Arbeitsplätze auf Jahre gesichert würden. Muss man wirklich daran erinnern, dass diese Regierung Jobs versprochen hat? Ein Blick auf London lohnt: Dort wird gerade Chinas Präsident Jiang Zemin von der britischen Polizei geschützt - vor Dissidenten und lästigen Protestanten. Als Dank für den freundlichen Empfang winken der britischen Industrie Milliardenaufträge. Heuchelei, Doppelmoral, Zynismus? Nein, pragmatische, an den Realitäten orientierte Politik. Die Koalition kann davon lernen. Von Adrian Zielcke |