jw, 26.10.99 Verstößt die neue NATO-Strategie gegen das Grundgesetz? jW fragte Wolfgang Gehrcke, stellvertretender Chef der PDS-Fraktion im Bundestag und ihr außenpolitischer Sprecher F: Die PDS hat eine Organklage beim Verfassungsgericht vorgebracht. Worum geht es dabei? Wir glauben, daß der Bundeskanzler mit seiner Zustimmung beim Washingtoner NATO-Gipfel zur neuen NATO-Strategie die Rechte des Parlamentes verletzt hat. Nach unserer Auffassung divergiert diese neue NATO- Strategie so entscheidend vom NATO-Grundlagenvertrag, daß das Parlament es hätte ratifizieren müssen. Wenn unsere Klage angenommen wird, muß die Bundesregierung mit der neuen NATO-Strategie in den Bundestag hineingehen, der dann dem Gesetz zustimmen müßte oder nicht. Wir wollen natürlich, daß er nicht zustimmt. F: Aber würde der Bundestag das mit den jetzigen Mehrheiten tun? Leider habe ich überhaupt keinen Zweifel, daß er zustimmen würde. Aber wir würden ihm eine sehr umfangreiche Sicherheitsdebatte aufzwingen. Nach unseren Vorstellungen soll sie nicht nur im Deutschen Bundestag stattfinden. Wir haben mit anderen Linksparteien in Europa, deren Länder ebenfalls Mitglied der NATO sind, darüber gesprochen, daß möglichst zeitgleich auch in anderen europäischen Parlamenten, in Frankreich, Italien, Griechenland, Spanien, eine Debatte um die neue NATO-Strategie stattfinden soll. Die Linke würde insgesamt in Europa diese Frage thematisieren. Da gibt es auch Konsens. F: Wo sehen Sie die inhaltlichen Kritikpunkte an der neuen Strategie? Der bislang gültige NATO-Vertrag schreibt fest, daß die NATO ein territoriales Verteidigungsbündnis ihrer Mitgliedsländer ist, das im Falle eines Angriffes die Mitgliedsländer verteidigt. Der territoriale Verteidigungsbegriff wird in der neuen NATO-Strategie durch den Interessenbegriff abgelöst, der natürlich sehr viel umfangreicher ist. Zum Beispiel äußerte sich General Klaus Naumann, einer der wichtigen Militärpolitiker Deutschlands, im Oktober gegenüber dem »Tagesspiegel« »Wir sind nur von Freunden umzingelt und müssen Risiken von uns fernhalten. Dazu brauchen wir die Fähigkeit, die Armee außerhalb des Landes einzusetzen.« Das heißt, Naumann fordert Auslandseinsätze der deutschen Armee, um »Risiken« fernzuhalten. Wenn man z. B. größere Flüchtlingssströme als Risiko für die innere Sicherheit betrachtet, ergibt sich daraus auf Grundlage der neuen NATO-Strategie das Recht, die Armee einzusetzen. Der Interessenbegriff korrespondiert mit der Ressourcenfrage, mit Öl und Wirtschaftspolitik, auch mit Wasser und Umwelt. Die neue NATO hat sich das Recht geschaffen, in vielfacher Form außerhalb des eigenen Territoriums agieren zu können. F: Wobei sie die Interessen auch willkürlich selbst definieren kann ... Genau. Das ist der zweite Punkt; der bisherige NATO- Vertrag schreibt eine strikte Bindung an die Charta der Vereinten Nationen vor. Dieser neue NATO-Vertrag läßt eine Selbst-Mandatierung der NATO zu, wie im Kosovo- Krieg. Das ist eine sehr gravierende Veränderung der Rechtsgrundlage. Das Gewaltmonopol der UNO wird mit dem neuen NATO-Vertrag in Frage gestellt und ausgehebelt. F: Die PDS hat schon erfolglos versucht, gerichtlich gegen den Jugoslawien-Krieg vorzugehen. Wieviel Erfolg rechnen Sie sich für diese Klage aus? Da rechne ich mir relativ hohe Chancen aus. Die Klage ist juristisch und inhaltlich gut begründet, sie knüpft an frühere Urteile an, die das Verfassungsgericht Anfang der 90er auf Antrag der SPD gestellt hat. Es gäbe nur einen möglichen Einwand: Wenn das Verfassungsgericht zur Auffassung kommt, daß die Unterschrift des Bundeskanzlers unter dem NATO-Strategiedokument nicht rechtsverbindlich war und der Bundestag somit nicht übergangen wurde. Dann wird sich die Bundesregierung aber nicht mehr auf die Bündnisverpflichtung berufen können. Egal auf welchem Weg, wir bekommen eine große öffentliche Debatte, zur NATO, NATO-Strategie und Sicherheitsarchitektur. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes kann nur dazu beitragen, die NATO zu hinterfragen und alternative Konzepte geltend zu machen. Interview: Ben Vanovitch |