nzz, 28.10.99 «Unser höchstes Ziel ist das Zusammenleben von Türken und Kurden» Interview mit dem PKK-Führungsmitglied Osman Öcalan Von Inga Rogg Die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) hat ihren Krieg gegen die Türkei für beendet erklärt. Das überraschende Friedensangebot hat viele Fragen aufgeworfen - unter anderem nach dem weiteren Verbleib der Guerilleros sowie nach der künftigen politischen Ausrichtung der PKK. Dazu hat die deutsche Journalistin Inga Rogg im Nordirak Osman Öcalan befragt, ein Mitglied des siebenköpfigen PKK-Führungsrats. Osman Öcalan ist ein Bruder des in der Türkei inhaftierten und zum Tod verurteilten PKK-Führers Abdullah Öcalan. Sie ziehen Ihre Guerilleros aus der Türkei ab. Sind Sie bereit, mit der Türkei Frieden zu schliessen? Die Türkische Republik leugnet bis heute die Existenz unseres Volkes und hat alles unternommen, um es zu vernichten. Das kurdische Volk hingegen will seit der Gründung der Republik in Gleichheit und Freiheit mit den Türken leben. Dafür hat die PKK von Anfang an gekämpft. Der bewaffnete Kampf war für uns nie Selbstzweck, wir waren dazu gezwungen. 1993, 1995 und 1998 haben wir die Weltöffentlichkeit über unsere Bereitschaft zum Frieden informiert. Nachdem das nicht zum Erfolg geführt hatte, sind wir noch einen Schritt weitergegangen und haben beschlossen, den Krieg unsererseits zu beenden. Am 2. August 1999 hat unser Vorsitzender diese Entscheidung noch einmal bekräftigt. Seit dem 1. September ist der Krieg von unserer Seite beendet, und wir werden ihn auch nicht wiederaufnehmen. Ihr Friedensangebot kommt sehr überraschend. Ist es nicht das Eingeständnis einer Niederlage - dass der bewaffnete Kampf einfach nicht zu gewinnen ist? Unsere Situation kann nicht mit ähnlichen Konflikten in anderen Ländern verglichen werden. Die Zahl unserer Guerilleros betrug immer etwa 10 000. Auch in jüngster Zeit sind es nicht weniger geworden. Deshalb gibt es nur zwei Möglichkeiten - entweder der Krieg geht weiter, oder man findet eine Lösung. Wir glauben, es ist an der Zeit, eine Lösung zu finden. Wir haben den Krieg beendet, um für diese Region der Welt den Weg für ein Leben in Frieden zu ebnen. Sie haben einmal für ein unabhängiges Kurdistan gekämpft. Als die PKK gegründet wurde, bestand sie zur Hälfte aus Kurden und aus Türken. Der Vater unseres Parteivorsitzenden Abdullah Öcalan ist Kurde, seine Mutter Türkin. Die Forderung nach einem unabhängigen Kurdistan haben wir vor allem deshalb erhoben, damit sich die Kurden gegen die erzwungene Assimilation zur Wehr setzen und selbstbewusster werden. Es war nie das eigentliche Ziel, sondern nur die äussere Form. «Für die Einheit der Türkei» Ist das nicht zynisch? Immerhin haben viele Kurden daran geglaubt und haben ihr Leben dafür riskiert. Das höchste Ziel der PKK ist das Zusammenleben von Türken und Kurden. Staatliche Unabhängigkeit, Föderalismus oder Autonomie sind dafür nur verschiedene Modelle. Das Ziel der PKK ist es, dass unser Volk in Freiheit leben kann. Von Anfang an stand für uns fest, dass wir an einem bestimmten Punkt den Separatismus aufgeben und für die Einheit der Türkei eintreten würden. Ein Leben in Freiheit in einer demokratischen Republik ist für uns gleichbedeutend mit der Unabhängigkeit. Wie viele Kämpfer und Kämpferinnen haben Sie bisher abgezogen? Etwa ein Drittel. Bis zum Winter soll der Rückzug abgeschlossen sein. Das grösste Hindernis ist jedoch, dass die türkische Armee eine Grossoffensive begonnen hat. Sie schneidet unseren Einheiten den Weg ab und will sie unbedingt vernichten. Deshalb kommt es immer wieder zu schweren Gefechten. Die Armee hat einen grossen Einfluss auf die türkische Politik. Ohne sie wird es keinen Frieden geben. Die grosse Mehrheit der Kommandanten, die am Krieg in Kurdistan beteiligt sind, verdient daran. Durch eine Beendigung des Kriegs würden sie eine wichtige Geldquelle verlieren. Am Ende wird der Generalstab entscheiden. Der Generalstab ist gespalten. Einerseits ist er bereit, den Krieg zu beenden, andererseits will er als Sieger daraus hervorgehen. Von diesem Zwiespalt profitieren die Kommandanten vor Ort, die den Krieg unbedingt fortsetzen wollen. Der türkische Staat hängt genau dazwischen - er kann sich weder für den Frieden noch für den Krieg entscheiden. Die türkische Armee und der Staat sind jedoch an einem Punkt angelangt, wo sich ihre Wege trennen. Sie führen also Gespräche mit der Regierung, während die Armee den Krieg fortsetzt? Es gibt keine Gespräche, aber es gibt eine breite Debatte. In der kurdischen wie der türkischen Gesellschaft ist das Bedürfnis nach Frieden gross. Mit dem Friedensaufruf und dem einseitigen Truppenrückzug hat unsere Führung den Kriegstreibern einen Dämpfer versetzt. Zudem hat die Türkei viele wirtschaftliche und soziale Probleme - insofern kann es gut sein, dass auch diejenigen, die die Fortsetzung des Kriegs wünschen, gezwungen sind, Frieden zu schliessen. In der Türkei kann jemand, der heute den Krieg will, morgen genausogut für den Frieden sein. Wie soll das funktionieren? Wir fordern deshalb, dass die Türkei möglichst bald in die Europäische Union aufgenommen wird. Solange die Türkei nicht Mitglied der Europäischen Union ist, wird der Demokratisierungsprozess nur schwer vorankommen. Das klang früher anders. Eine weitere Kehrtwendung? Früher waren wir tatsächlich gegen die EU- Mitgliedschaft der Türkei. Die Forderung ist Teil unserer neuen Politik, um den Friedens- und Demokratisierungsprozess zu stärken. Sollte die Türkei in die EU eintreten, dann würde das auch dem kurdischen Volk nützen. Frieden und Demokratie werden dann zu zentralen Themen, der Druck auf die türkische Regierung wäre erheblich grösser. Haben Sie darüber mit europäischen Regierungen gesprochen? Unsere diplomatischen Vertretungen haben seit August entsprechende Kontakte aufgenommen. Wir bemühen uns darum, dass die Türkei möglichst schnell in die EU aufgenommen wird. «Den politischen Kampf fortsetzen» Ihr Bruder galt als Staatsfeind Nummer eins. Er ist in Haft und wurde zum Tode verurteilt. Wenn Sie jetzt ihre Guerilleros abziehen, hat die Türkei ihr Ziel erreicht. Warum sollte sie dann noch auf Ihre Forderungen eingehen? Die PKK wird nicht einfach vom Erdboden verschwinden. Unsere Stärke liegt nicht allein auf der militärischen Ebene. Wir verfügen über eine schlagkräftige politische Bewegung und werden den politischen Kampf fortsetzen. Die PKK gilt in der Türkei als terroristisch. Ja (lacht). Den Namen PKK wird es nicht mehr geben. Die PKK wird es künftig nicht mehr geben? Die PKK wird es weiterhin geben. Aber sie wird auf andere Art und Weise auftreten. Möglicherweise wird die politische Bewegung der PKK erst einmal in der Illegalität operieren. Mit der Zeit wird sie jedoch legalisiert werden. Glauben Sie im Ernst, dass die PKK irgendwann als ganz normale Partei zugelassen wird? Ja, da sind wir uns ganz sicher. Das hängt nicht vom Willen der türkischen Regierung ab, sondern wird ein direktes Ergebnis der Demokratisierung sein. Wir haben die Mehrheit des kurdischen Volkes hinter uns. Wenn die PKK zum Krieg aufruft, wird gekämpft. Wenn sie Frieden will, wird es auch Frieden geben. Das klingt ziemlich einfach. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Obwohl es bei den Kommunalwahlen teilweise zu extremen Behinderungen kam, haben in 37 Städten und Gemeinden die Patrioten die Wahlen für sich entschieden. Sie meinen, dass dort Hadep-Vertreter gewählt wurden. Zwar sind diese Personen keine PKK-Mitglieder, aber sie wurden gewählt, weil die PKK ihre Wahl empfohlen hat. Wenn es keine Wahlbehinderungen gegeben hätte, dann wären sicher sämtliche Stadt- und Gemeinderäte an uns gegangen. "Kein Druck auf die Bevölkerung» Wollen Sie etwa behaupten, es sei egal, ob man die Hadep oder die PKK wähle? Ohne die Zustimmung der PKK kann die Hadep überhaupt nichts tun. Das heisst, zwischen dem Volk und der PKK gibt es keinen Unterschied. Das Volk tut das, wozu es die PKK auffordert. Einige Gemeinderäte wurden beispielsweise gewählt, obwohl sie keinen Wahlkampf gemacht hatten. Mit Demokratie hat das herzlich wenig zu tun. Das ist die Demokratie der PKK, wir üben keinen Druck auf die Bevölkerung aus. Es reicht, dass wir Zettel austeilen und Empfehlungen aussprechen. Obwohl der Staat viele Menschen ermordet hat, ist es ihm nicht gelungen, einen Keil zwischen das Volk und die PKK zu treiben. In der PKK sind alle Religionsgemeinschaften, alle Ethnien vertreten - Araber, Türken, Perser. Zudem findet man in der PKK alle Klassen. Die PKK ist ein Mosaik. Wenn sich die PKK durch etwas unterscheidet, dann ist es die Religion der Freiheit. Religion der Freiheit? Die Freiheit ist für uns nicht nur eine Lebensform, sondern ein Glaube. Wenn man diesen Charakterzug der PKK nicht versteht, dann kann man ihr auch nicht richtig begegnen. Genausowenig wie man mit der Kreuzigung Jesu das Christentum ausrotten konnte, kann man mit der Verhaftung unseres Anführers die Ausbreitung der PKK verhindern. Heisst das, Sie vergleichen Ihren Bruder mit Jesus? Wenn unsere Religion die Freiheit ist, dann ist er unser Prophet (lacht). Und wir sind seine Jünger. Die PKK als religiöse Vereinigung? Wenn die Freiheit eine Religion ist, dann sind wir eine religiöse Vereinigung. Weil dem kurdischen Volk die Freiheit so lange verwehrt wurde, ist die Freiheit zu einem Glauben geworden. Erst durch den Vorsitzenden hat es die Freiheit kennengelernt. «. . . dann wird es ein Blutbad geben» Wollen Sie mit dem Friedensangebot den türkischen Staat dazu bewegen, das Urteil gegen Ihren Bruder nicht zu vollstrecken? Durch die Verhaftung unseres Vorsitzenden wurde die Lage ziemlich schwierig. Wir mussten eine Lösung finden, oder es wäre zwischen den beiden Völkern zum Blutvergiessen gekommen. Deshalb haben wir diesen Schritt getan. Auch wenn wir für den Frieden und die Demokratie einen hohen Preis zahlen müssen, sind wir bereit, alles dafür zu tun. Sollte der türkische Staat sich anmassen, das Urteil zu vollstrecken, dann wird es ein Blutbad geben. Wir wollen dafür gegenüber der Geschichte und der Menschheit nicht verantwortlich sein. Wollen Sie damit sagen, dass Sie dann keinen Einfluss mehr auf Ihre Leute haben? Sehen Sie, als unser Vorsitzender verhaftet wurde, haben sich fast hundert Personen selbst verbrannt. Wir konnten sie nicht stoppen. Hinter diesen Selbstverbrennungen steht eine Botschaft: Entweder man geht auf die Forderungen der Kurden ein, oder sie werden anderen das gleiche antun, was sie sich selbst antun. Das klingt wie eine Drohung. Wir haben zwar die Führung der Partei übernommen, aber wenn unserem Anführer etwas zustossen sollte, können wir für nichts mehr garantieren. Sollte das Urteil vollstreckt werden, dann überlassen wir dem Volk die Entscheidung. Jeder einzelne kann dann selbst entscheiden, was er tut oder nicht. Das haben wir auch unserem Volk gesagt. Die Kurden werden dann mit allen Mitteln kämpfen, die ihnen zur Verfügung stehen. Noch liegt der Schlüssel bei uns. Wenn unser Vorsitzender hingerichtet werden sollte, dann ist das für sich genommen schon ein Befehl. In diesem Fall hat keiner die Lage unter Kontrolle. Wer das Gegenteil behauptet, lügt. Haben Sie Kontakt mit Ihrem Bruder? Wir stehen über die Rechtsanwälte in Kontakt miteinander. Wenn er nur einen Satz sagt, bedeutet das alles für unser Volk. Das ist die Realität. «Ein Wort von ihm genügt» Es ist alles beim alten? Er trifft weiterhin die Entscheidungen? Ein Wort von ihm genügt, damit wir eine Entscheidung treffen. Als ich sagte, dass die Freiheit unsere Religion ist und der Vorsitzende unser Prophet, habe ich das nicht umsonst gesagt. Sie befanden sich in den letzten vier Jahren nicht nur mit der Türkei im Krieg, sondern auch mit der Demokratischen Partei hier im kurdischen Nordirak. Wir haben den Krieg mit der Demokratischen Partei beendet, genauso wie den Krieg mit der Türkei. Aber Sie verlegen Ihre Guerilleros hierher. Ohne Zweifel wäre es riskant, wenn wir alle unsere Einheiten in Südkurdistan ansiedeln würden. Genau deshalb wollen wir sie aufteilen. Wie soll es mit Ihrer Guerilla weitergehen? Wir wollen unsere bewaffneten Einheiten demobilisieren und an verschiedenen Orten der Welt ansiedeln - im Kaukasus, auf dem Balkan, in Europa. Sie wollen Ihre Guerilla komplett auflösen und die Kämpfer in ihre Herkunftsländer zurückschicken? Oder schicken Sie sie in andere Länder, damit sie dort kämpfen? Im Moment ziehen wir sie zurück und bilden sie aus. Sobald das Unterrichtsprogramm abgeschlossen ist, werden wir sie verteilen. An einigen Orten werden möglicherweise bewaffnete Einheiten zurückbleiben, an anderen Orten werden jedoch Demobilisierte angesiedelt. Werden Sie einen Teil Ihrer bewaffneten Einheiten in der Türkei zurücklassen? Nein, wir ziehen alle unsere Einheiten aus der Türkei ab. Das ist eine Zäsur. Wir befinden uns in einer Übergangsphase, in der wir uns von einer bewaffneten in eine politische Bewegung verwandeln. Nach 15 Jahren bewaffnetem Kampf ist es nicht leicht, eine politische Bewegung auf die Beine zu stellen. Ihre Kämpfer sind im Durchschnitt sehr jung. Viele haben sich der Guerilla bereits im Jugendalter oder sogar fast noch im Kindesalter angeschlossen und haben heute fünf bis zehn Jahre Kriegserfahrung. Wie wollen Sie diese jungen Menschen wieder ins Alltagsleben integrieren? Es wird mit Sicherheit einige Jahre dauern, sie werden über Jahre hinaus politischen Unterricht erhalten müssen. Wir wissen aber auch, dass einige unserer Kämpfer nicht mehr in die Gesellschaft integriert werden können. Viele sagen, sie würden nie ihre Waffen abgeben, selbst wenn man ihnen den Kopf abschlage. Oder sie sagen, die Waffe sei zu einem Teil ihres Körpers geworden. Es war seinerzeit ziemlich schwierig, die amerikanischen Soldaten zu reintegrieren, die am Vietnamkrieg teilgenommen hatten. Man muss sie wieder mit dem ganz normalen Leben vertraut machen. Das ist ein grosses Problem für uns, das wir nicht alleine lösen können, wir brauchen dazu internationale Unterstützung. |