Berliner Zeitung, 28.10.99 Netter, despotischer Nachbar Ralf Beste Anders als die Vorgängerregierung setzen Kanzler Schröder und Außenminister Fischer sich für die Heranführung der Türkei an die EU ein. Doch der Streit um die Lieferung eines Testpanzers offenbart, dass die Formulierung einer schlüssigen Türkeipolitik sich noch im Frühstadium befindet. Dafür gibt es gute Gründe. Zum einen hatte Kohl mit seiner Ablehnung einer türkischen EU-Kandidatur die Beziehungen zu Istanbul faktisch eingefroren. Zum anderen schwankt die Wahrnehmung der Türkei in der deutschen Öffentlichkeit in Schwindel erregender Weise. Einerseits feiern 20 000 Türken im Berliner Olympiastadion friedlich und fröhlich das 4:1 von Galatasaray Istanbul gegen Hertha BSC, als sei es ein Heimspielerfolg. Zugleich meldet das ZDF, die Türkei baue mit deutscher Hilfe ein Chemiewaffenlabor auf, und Chemiewaffen würden gegen Kurden eingesetzt. Die Türkei hat für uns Deutsche zwei Gesichter: der nette Nachbar im selben Haus - und ein ferner Staat, der mitunter dargestellt wird, als handele es sich um eine Despotie wie Libyen oder den Irak. Darauf eine geradlinige Politik aufzubauen ist zugegebenermaßen nicht leicht. Türkeipolitik ist in Deutschland, wo mehr als zwei Millionen Türken, auch kurdischer Herkunft, leben, immer Innen- und Außenpolitik zugleich. Die Debatte um den Export eines Testpanzers, die viele Ressentiments gegen die Türkei wachgerufen hat, hat dies wieder gezeigt. In der rot-grünen Koalition wurde deutlich, dass sowohl Schröder als auch Fischer letztlich innenpolitisch motiviert argumentierten. Der Kanzler setzte seinen gesunden Menschenverstand ein: Wir können nicht Istanbul bedeuten, dass die Türkei in Europa willkommen ist und dem Land gleichzeitig Waffen mit dem Hinweis verweigern, es werde von Schurken regiert und bevölkert, meint Schröder. Nebenbei bleiben die Deutschen im Panzergeschäft aktiv und sichern Arbeitsplätze. Der Außenminister schwankt stetig zwischen Lob und Tadel. Den Grünen beweist er, dass er heldenhaft Widerstand gegen die Panzerlieferung leistet - schließlich verletze die Türkei die Menschenrechte. Für die Menschenrechte sind die Grünen immerhin im Frühjahr in den Kosovo-Krieg gezogen. Doch Fischer kann auch pragmatischer sein. Vor zwei Wochen besuchte er skandinavische Hauptstädte, um den Regierungen ihre menschenrechtspolitisch motivierten Bedenken gegen die türkische EU-Kandidatur auszureden. Rein außenpolitisch gesehen ist der Weg, den die Bundesregierung einschlägt, richtig. Kanzler und Außenminister investieren viel Zeit und Mühe, um eine vertrauensvolle und offene Atmosphäre im Umgang mit der türkischen Führung zu schaffen. Die Türkei braucht eine europäische Perspektive, schon um nicht in die Isolation oder den Islamismus abzudriften. Die türkische Staats- und Gesellschaftsordnung bezieht ihre Orientierung aus dem Blick nach Nordwesten. Ginge sie verloren, würde das die Türkei destabilisieren. Das widerspräche auch den europäischen Interessen. Diese Einsichten sind nicht neu, doch sie werden ständig überdeckt. In jeder Debatte werden die Grundlagen der Türkeipolitik wieder hinterfragt. So wie die deutsche Gesellschaft zwei Bilder von der Türkei hat, so schwankt auch die deutsche Politik beständig zwischen zwei Polen: Die CDU begreift Europa als christliche Wertegemeinschaft und sähe die Türken deshalb gerne draußen. Bei Waffengeschäften hält sie den Taufschein jedoch nicht für erforderlich. Die Grünen auf der anderen Seite des Spektrums empfinden ein christliches Konzept für internationale Beziehungen als rückständig. Doch auch ihr Wertesystem grenzt die Türkei aus, denn die Grünen fordern die Einhaltung der Menschenrechte nach westlichem Muster. Die SPD folgt der Argumentation der Grünen im Prinzip, teilt aber im Geheimen die der Union. Also redet Rot-Grün von Kooperation und droht dann mit Ablehnung in Rüstungsfragen, die wiederum nicht ganz ernst gemeint ist. Im Ergebnis wertet die Türkei solche Argumentationen als fantasievolle Begründungen der immer gleichen Grundbotschaft: Sie ist nicht willkommen in Europa. Diesen Eindruck will die Bundesregierung eigentlich vermeiden. Ihre Türkeipolitik muss deshalb künftig Ausschläge zwischen Einladung und Ausgrenzung vermeiden. |