Saarbrücker Zeitung, 24.11.1999
Öcalan zittert weiter um sein Leben Revisionsgericht überprüft Todesurteil gegen PKK-Chef - Von SUSANNE GÜSTEN, Istanbul - Nur wenige Minuten wird die Urteilsverkündung am Donnerstag in Ankara dauern, doch die Folgen werden die Türkei auf Jahre hinaus prägen und selbst die westeuropäischen Staaten beschäftigen. Für den Angeklagten bedeutet der Termin sogar eine Vorentscheidung über Leben und Tod: Ein dreiviertel Jahr nach der Gefangennahme von PKK-Chef Abdullah Öcalan und ein halbes Jahr nach dem Prozessbeginn auf der Gefängnisinsel Imrali verkündet der türkische Berufungsgerichtshof seine Entscheidung über das Todesurteil gegen den kurdischen Rebellenchef. Zwar handelt es sich um eine rein juristische Entscheidung, doch angesichts des Wendepunkts im Kurdenkrieg und des bevorstehenden EU-Gipfels dürfte der Urteilsspruch national wie international auch als politisches Signal aufgefasst werden. Die 9. Strafkammer des Berufungsgerichtshofes hatte zu überprüfen, ob das im Juni von einem Staatssicherheitsgericht auf Imrali wegen Hochverrats gegen Öcalan verhängte Todesurteil rechtlich zu beanstanden ist. Eine ausgemachte Sache ist die Revisionsentscheidung nicht, denn der Berufungsgerichtshof pocht unter seinem streitbaren Präsidenten Sami Selcuk stärker auf die richterliche Unabhängigkeit als dies manch andere Instanzen in der Türkei tun. In Justizkreisen macht sogar schon das Gerücht die Runde, das Todesurteil von Imrali werde aus verfahrenstechnischen Gründen kassiert. Bewahrheitet sich das, so ist fest mit einem sofortigen Einspruch des Generalstaatsanwaltes zu rechnen, über den dann wiederum der Große Senat des Berufungsgerichtshofes entscheiden muss. Gibt der Senat der Beschwerde statt, ist das Todesurteil rechtskräftig; weist er sie aber zurück, muss das gesamte Verfahren auf der Gefangeneninsel Imrali neu aufgerollt werden. Andere Juristen rechnen mit Verweis auf die Gesetzeslage allerdings weiterhin damit, dass die fünfköpfige Strafkammer am Donnerstag das Todesurteil bestätigt. Denn nach dem türkischen Strafgesetz steht die Todesstrafe zwingend auf jeden Versuch, die territoriale Integrität der Türkei in Frage zu stellen - ein Straftatbestand, den Abdullah Öcalan mit der Gründung und Führung einer separatistischen Rebellenarmee unzweifelhaft erfüllt hat. Seine Verteidiger konnten im Revisionsverfahren denn auch nur geltend machen, die Reue des Rebellenchefs sei von der ersten Instanz nicht ausreichend gewürdigt worden. Mit einer Bestätigung des Todesurteils wäre der Rechtsweg für Öcalan in der Türkei ausgeschöpft. Seine Anwälte haben zwar bereits den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg angerufen, doch ist die Türkei nicht gezwungen, dessen Entscheidung abzuwarten, bevor sie den PKK-Chef aufknüpft. Allerdings sprechen auch aus türkischer Sicht gewichtige politische Gründe dafür, den Rebellenführer nicht sofort zum Galgen zu führen. Und weil es gemäß der türkischen Verfassung die Politik ist, die letztlich über die Vollstreckung des Todesurteils entscheidet, könnte Öcalan durchaus auch mit einem rechtskräftigen Todesurteil noch eine ganze Weile am Leben bleiben. Zwar käme ein Hinrichtungsbeschluss im Parlament jederzeit zustande, wenn dort über die Akte Öcalan abgestimmt würde. Weil das Plenum aber erst dann über den Fall abstimmen kann, wenn er ihm vom Rechtsausschuss vorgelegt wird, kann der Ausschussvorsitzende die Akte bis in alle Ewigkeit auf seinem Schreibtisch verstauben lassen und damit die Hinrichtung verhindern, wenn es den Regierungsparteien politisch opportun erscheint. Zumindest bis nach dem Gipfel der Europäischen Union in Helsinki im Dezember dürfte die Akte Öcalan auf jeden Fall verbummelt werden, erhofft sich die Türkei dort doch die Anerkennung als Beitrittskandidatin - im Falle einer Hinrichtung Öcalans wäre dieser Traum ausgeträumt. Und auch jenseits der außenpolitischen Rücksichten kann Ankara kein Interesse daran haben, Öcalan rasch aufzuknüpfen: Seit seiner Festnahme hat der PKK-Chef den bewaffneten Kampf für beendet erklärt und seinen Truppen den Rückzug aus der Türkei befohlen; solange Öcalan hoffen kann, am Leben zu bleiben, können die Türken auch mit der Fortsetzung dieser Friedenslinie rechnen. Diese Überlegungen entsprechen dem Kalkül des PKK-Chefs, der dem türkischen Staat im Austausch für sein Leben den Frieden angeboten hat. Bisher ging diese Rechnung auf; trotzdem wird sich der Rebellenchef seines Lebens niemals sicher sein können, solange die türkische Politik ein rechtskräftiges Todesurteil gegen ihn in Händen hält. Denn sollte es einer türkischen Regierung jemals opportun erscheinen, dann könnte sie Öcalan noch immer jederzeit an den Galgen schicken. |