Süddeutsche Zeitung, 25.11.1999 Das nächste Beben kommt bestimmt Istanbul beugt vor: Retter werden ausgebildet, Gebäude auf ihre Sicherheit überprüft Von Wolfgang Koydl Istanbul - Nach den zwei Erdbeben im August und November im Nordwesten der Türkei hat nun die Stadtverwaltung von Istanbul damit begonnen, die Millionenmetropole am Bosporus ernsthaft auf ein möglicherweise katastrophales Beben vorzubereiten. Seit einiger Zeit werden Rettungsteams aufgestellt und ausgebildet, Hubschrauber-Landeplätze markiert und Grünflächen bereitgestellt, auf denen im Ernstfall Zeltstädte errichtet werden können. Die Vorbereitungen geschehen ohne großes Aufsehen, um die Bevölkerung nicht weiter in Panik zu versetzen. Seit den beiden großen Beben erwarten Seismologen, dass die nächsten schweren Erdstöße Istanbul treffen werden. Unlängst hatte Mehmet Mete Isikara, der Leiter der türkischen Erdbebenwarte, die möglichen Folgen skizziert, die ein Beben mit einer Stärke von mehr als sieben Punkten auf die Stadt haben würde. Man müsse mit mindestens 200 000 Toten rechnen. Bis zu acht Millionen Einwohner könnten obdachlos werden. Der islamistische Oberbürgermeister von Istanbul, Ali Müfit Gürtuna, bot unterdessen allen Bewohnern an, ihre Gebäude kostenlos von Ingenieuren der Stadtverwaltung auf ihre Sicherheit überprüfen zu lassen. Gürtuna gab jedoch lange Wartezeiten zu, da die Liste der noch nicht kontrollierten Häuser sehr lang sei. Seit den Beben hat Istanbul die Zahl seiner Zivilschutzgruppen auf 500 verdoppelt. Sie sollen in den Stadtteilen stationiert und rund um die Uhr einsatzbereit sein. Wo immer möglich, sollen die Wasserversorgungseinrichtungen verstärkt und zusätzliche Gas-Sensoren installiert werden, die bei einem Beben automatisch das Gas abdrehen. Bitte um winterfeste Zelte Die Lage der Überlebenden in den Erdbebengebieten von Izmit und Düzce verschlechterte sich indes wegen der schlechten Witterung weiter. Der türkische "Rote Halbmond" hat über das "Rote Kreuz" europaweit um winterfeste Familienzelte gebeten. Ein Sprecher sagte, Europa könne keine Zelte mehr erübrigen. Zwar seien aus den USA 10000 Stück geliefert worden, doch diese Zahl reiche nicht aus. Regierungschef Bülent Ecevit widersprach den Angaben. Es gebe kein Problem: "Wir haben mehr als genug Winterzelte", sagte er. Probleme gibt es auch mit Fertighäusern. Ankara hatte sich verpflichtet, bis zum 30. November 26 672 dieser Baracken fertig zu stellen. Wie die Zeitung Radikal berichtete, wurden bisher nur 4348 Fertigbauten vollendet. Im Gebiet des Marmara-Bebens vom August leben noch 73000 Menschen in Zelten, davon etwa 15000 in nicht heizbaren und schlecht isolierten Sommerzelten. Die Zahl der Toten des zweiten Bebens vom 12. November hat sich mittlerweile auf 749 erhöht. Bei dem Beben, das am 17. August das Marmara-Gebiet verwüstete, kamen nach amtlichen Angaben 17000 Menschen ums Leben. In Wirklichkeit dürfte die Zahl viel höher liegen, da mehr als 40 000 Menschen offiziell noch immer als vermisst gelten. Höchstwahrscheinlich sind auch sie tot. Der Gouverneur der von den Erdstößen betroffenen Provinz Bolu löste unterdessen einen Skandal aus, als er vor laufenden Kameras eine junge Frau beschimpfte und ohrfeigte. Sie hatte bei dem Beben ihre Wohnung verloren und den Gouverneur um Hilfe gebeten. Er aber schlug ihr auf den Mund und ließ sie als "Anarchistin" festnehmen.
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