Tagesspiegel, 25.11.1999 Fall Öcalan vor türkischem Berufungsgericht Heute wird darüber entschieden, ob das Verfahren gegen den kurdischen Rebellenführer neu aufgerollt wird Susanne Güsten Nur wenige Minuten wird die Urteilsverkündung in Ankara heute dauern, doch die Folgen werden die Türkei auf Jahre hinaus prägen und selbst die westeuropäischen Staaten beschäftigen. Für den Angeklagten bedeutet der Termin sogar eine Vorentscheidung über Leben und Tod: Ein Dreivierteljahr nach der Gefangennahme von PKK-Chef Abdullah Öcalan in Afrika und ein halbes Jahr nach Prozesseröffnung auf der Gefängnisinsel Imrali verkündet der türkische Berufungsgerichtshof seine Entscheidung über das Todesurteil gegen den kurdischen Rebellenchef. Zwar handelt es sich um eine juristische Entscheidung, doch angesichts des Wendepunkts im Kurdenkrieg und des bevorstehenden EU-Gipfels wird der Urteilsspruch national wie international als politisches Signal aufgefasst werden. Die 9. Strafkammer des Berufungsgerichtshofes hatte zu überprüfen, ob das im Juni von einem Staatssicherheitsgericht auf Imrali wegen Hochverrats gegen Öcalan verhängte Todesurteil rechtlich zu beanstanden ist. Eine ausgemachte Sache ist die Revisionsentscheidung nicht, denn der Berufungsgerichtshof pocht unter seinem streitbaren Präsidenten Sami Selcuk stärker auf die richterliche Unabhängigkeit, als dies manch andere Instanzen in der Türkei tun. In Justizkreisen macht das Gerücht die Runde, das Todesurteil von Imrali werde aus verfahrenstechnischen Gründen kassiert. Bewahrheitet sich das, so ist fest mit einem sofortigen Einspruch des Generalstaatsanwaltes zu rechnen, über den dann wiederum der Große Senat des Berufungsgerichtshofes entscheiden muss. Gibt der Senat der Beschwerde statt, ist das Todesurteil rechtskräftig; weist er sie aber zurück, muss das gesamte Verfahren auf Imrali neu aufgerollt werden. Andere Juristen rechnen mit Verweis auf die Gesetzeslage allerdings weiterhin damit, dass die fünfköpfige Strafkammer heute das Todesurteil bestätigt. Denn nach dem türkischen Strafgesetz steht die Todesstrafe zwingend auf jeden Versuch, die territoriale Integrität der Türkei in Frage zu stellen - ein Straftatbestand, den Öcalan mit der Gründung und Führung einer separatistischen Rebellenarmee unzweifelhaft erfüllt hat. Seine Verteidiger konnten im Revisionsverfahren denn auch nur geltend machen, die Reue des Rebellenchefs sei von der ersten Instanz nicht ausreichend gewürdigt worden. Mit einer Bestätigung des Todesurteils wäre der Rechtsweg für Öcalan in der Türkei ausgeschöpft. Seine Anwälte haben zwar den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof angerufen, doch ist die Türkei nicht gezwungen, dessen Entscheidung abzuwarten, bevor sie den PKK-Chef hinrichtet. Öcalan selbst erklärte vor dem Urteil, er habe seine historische Aufgabe für den Frieden zwischen Türken und Kurden erfüllt und sei auch zum Sterben bereit. "Keine Todesstrafe kann meine Rolle ungeschehen machen", erklärte der auf Imrali inhaftierte PKK-Chef. Erst in der Zukunft werde seine Politik besser verstanden werden. Allerdings sprechen auch aus türkischer Sicht gewichtige politische Gründe dafür, den Rebellenführer nicht sofort zum Galgen zu führen. Und weil es gemäß der türkischen Verfassung die Politik ist, die letztlich über die Vollstreckung des Todesurteils entscheidet, könnte Öcalan durchaus auch mit einem rechtskräftigen Todesurteil noch eine ganze Weile am Leben bleiben. Zwar käme ein Hinrichtungsbeschluss im Parlament jederzeit zustande, wenn dort über die Akte Öcalan abgestimmt würde. Weil das Plenum aber erst dann über den Fall abstimmen kann, wenn er ihm vom Rechtsausschuss vorgelegt wird, kann der Ausschussvorsitzende die Akte bis in alle Ewigkeit auf seinem Schreibtisch verstauben lassen und damit praktisch die Hinrichtung verhindern, wenn es den Regierungsparteien politisch opportun erscheint. Zumindest bis nach dem Gipfel der Europäischen Union in Helsinki im Dezember dürfte die Akte Öcalan auf jeden Fall verbummelt werden. Erhofft sich die Türkei dort doch die Anerkennung als Beitrittskandidatin, die bei einer Hinrichtung des PKK-Chefs hinfällig wäre. Und auch jenseits der außenpolitischen Rücksichten kann Ankara kein Interesse daran haben, Öcalan rasch aufzuknüpfen: Seit seiner Festnahme hat der PKK-Chef den bewaffneten Kampf für beendet erklärt und seinen Truppen den Rückzug aus der Türkei befohlen; solange er hoffen kann, am Leben zu bleiben, können die Türken mit der Fortsetzung dieser Friedenslinie rechnen. Diese Überlegungen entsprechen dem Kalkül des PKK-Chefs, der dem türkischen Staat im Austausch für sein Leben den Frieden angeboten hat. Bisher ging diese Rechnung auf; trotzdem wird sich der Rebellenchef seines Lebens niemals sicher sein können, solange die türkische Politik ein rechtskräftiges Todesurteil gegen ihn in Händen hält. Denn sollte es einer türkischen Regierung jemals opportun erscheinen, dann könnte sie Öcalan noch immer jederzeit zum Galgen schicken.
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