ap 25.11.1999 13:17

Der Fall Öcalan steht zwischen der Türkei und der EU

Außenpolitischer Erfolg bei OSZE-Gipfel nach Bestätigung von Todesurteil in Frage gestellt -
Nationalisten beschwören innenpolitische Krise herauf

Von AP-Korrespondent Louis Meixler

Ankara (AP)

Der Fall Öcalan scheint sich nicht nur zum zentralen Prüfstein für die angestrebte EU-Mitgliedschaft der Türkei
zu entwickeln, er könnte auch zu einer ernsten innenpolitischen Krise führen. Nach der Bestätigung des
Todesurteils durch das höchste Berufungsgericht in Ankara ist das juristische Tauziehen um den Chef der
verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) beendet - das Geschehen verlagert sich nun auf die politische
Bühne, auf der letztlich die Entscheidung fällt, ob Öcalan hingerichtet wird.

Etwa drei Wochen vor dem EU-Gipfel von Helsinki bringt die Entscheidung des Kassationsgerichtshofs
vom Donnerstag wieder Misstöne in das internationale Konzert der Staats- und Regierungschefs, die nach dem
erfolgreichen OZSE-Gipfel vor einer Woche in Istanbul noch voll des Lobes für die Türkei waren. Von
Menschenrechtsverletzungen und niedrigen demokratischen Standards war nicht mehr die Rede. Der
französische Staatspräsident Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder erwiesen sich als die
prominentesten Fürsprecher, der Türkei in Helsinki den Status eines Beitrittskandidaten zuzuerkennen.

Der deutsche Botschafter in Ankara, Joachim Vergau, brachte die Stimmung innerhalb der EU aber schon
vor der Bestätigung des Todesurteils auf den Punkt: Wenn Öcalan hingerichtet würde, könne «die Türkei den
Gipfel in Helsinki vergessen», sagte Vergau laut türkischen Medienberichten am Dienstag bei einer Rede in
Izmir.

Ministerpräsident Bülent Ecevit dürfte es daher nicht besonders eilig haben, den Fall an den zuständigen
Parlamentsausschuss zu verweisen. Denn erst wenn das Parlament und Staatspräsident Süleyman Demirel
das Todesurteil bestätigt haben, kann Öcalan hingerichtet werden. Seit 1984 hat der Ausschuss aber keine
Entscheidungen mehr über Todesurteile gefällt. Daher wurden in der Praxis keine Hinrichtungen mehr
vollstreckt, obwohl Dutzende Verurteilte in Todeszellen sitzen.

Im Fall Öcalan ist der öffentliche Druck aber immens. Die meisten Türken machen ihn persönlich für die
37.000 Toten verantwortlich, die der Krieg gegen die kurdischen Rebellen im Osten des Landes seit 1984
gefordert hat. Am stärksten setzen sich die Angehörigen von getöteten Soldaten für eine Hinrichtung ein. Sie
gehören zugleich zur politischen Basis der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die
seit Mai an der Koalition aus drei Parteien beteiligt und aus der Wahl zuvor als zweitstärkste Kraft
hervorgegangen ist.

Der stellvertretende MHP-Vorsitzende Sefkat Cetin sagte, wenn dem Druck der EU nachgegeben und die
Todesstrafe nicht vollstreckt würde, wäre die Unabhängigkeit der Türkei in Frage gestellt. Und er richtete eine
unmissverständliche Drohung an Ecevit und seine Demokratische Linkspartei (DSP): «Diejenige Person oder
Organisation, die das zu verantworten hat, wird vom Volk gestürzt.»

Verfahren vor EU-Menschenrechtsgerichtshof als Aufschub

Als Ausweg erscheint angesichts der möglichen inneren Wirren und der bedrohten EU-Annäherung, dass
Öcalans Anwälte ihren Fall wie angekündigt vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bringen. Da
ein Verfahren in Straßburg rund zwei Jahre dauern dürfte, brächte dies der Regierung in Ankara zunächst einen
erwünschten Aufschub. Der Verfassungsexperte Bülent Tanor sagte, wenn die Türkei in die EU wolle, müsse
das Justizsystem den internationalen Normen Rechnung tragen und eine Entscheidung des
Menschenrechtsgerichtshofs akzeptieren.

Ecevit hat bereits angekündigt, dass ein EU-Verfahren respektiert und Öcalan in der Zwischenzeit nicht
hingerichtet würde. Falls die Türkei auf dem Gipfeltreffen in Helsinki wirklich näher an die Europäische Union
heranrückt, hat Ecevit vor einer endgültigen Entscheidung über Öcalans Schicksal Zeit genug, um seine
Regierung auf EU-Kurs zu trimmen, oder sich eine andere Mehrheit zu suchen. Ecevit könnte die Bürger auch
darauf einstimmen, die ausgestreckte Hand der PKK zu ergreifen, die seit 1. September einen einseitigen
Waffenstillstand einhält. Öcalan hat dem bewaffneten Kampf abgeschworen und noch in seiner Stellungnahme
vor dem Kassationsgerichtshof seinen Friedenswillen bekräftigt.