Süddeutsche Zeitung 26.11.1999 Hoffen auf die Menschenrechte Straßburger Tribunal angerufen Von Helmut Kerscher Abdullah Öcalan ist einer von 800 Millionen Bürgern, die in den 41 Mitgliedstaaten des Europarats leben. Und er ist einer von 12 000, deren Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg anhängig sind. Der Fall des PKK-Führers, der eine siebenköpfige Kammer seit Öcalans Festnahme in Kenia im Februar beschäftigt, ist der mit Abstand wichtigste in der 40jährigen Geschichte des Gerichts. Deshalb wird eine Entscheidung nicht erst nach der durchschnittlichen Verfahrensdauer von derzeit sieben Jahren fallen. Allerdings ist auch keine Eil-Entscheidung zu erwarten. Der seit November 1998 mit 41 Vollzeitrichtern arbeitende Gerichtshof besitzt nach eigenem Spruch keine Kompetenz für einen einstweiligen Rechtsschutz. Er kann beteiligte Staaten lediglich bitten, auf das laufende Verfahren Rücksicht zu nehmen. So begnügte sich das Gericht im Februar mit Fragen an die türkische Regierung zu den Umständen der Festnahme, den Haftbedingungen und dem Zugang zu Verteidigern. Öcalans Anwälte machten mehrere Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention geltend. Sie sahen das Recht auf ein faires Verfahren, das Folterverbot sowie Lebens-, Freiheits- und Sicherheitsrechte beeinträchtigt. Todesstrafe nicht direkt verboten Ob das Verfahren so korrekt war, wie es das türkische Berufungsgericht jetzt bewertet hat, muss Straßburg am Maßstab der "Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten" prüfen. Die Türkei hat dieses Vertragswerk im Jahr 1954 ratifiziert und im Jahr 1987 auch die sogenannte "Individualrechtsbeschwerde" anerkannt. Seitdem ist der Gerichtshof mit einer Fülle von türkischen Beschwerden wegen Misshandlungen, willkürlicher Festnahmen und zu langer Polizeihaft beschäftigt. Was die Türkei nicht unterzeichnet hat, ist das Zusatzprotokoll Nr. 6 aus dem Jahr 1983. Darin steht der für Öcalan lebenswichtige Satz: "Die Todesstrafe ist abgeschafft." In der Konvention selbst ist die Todesstrafe unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Neue Mitglieder müssen die Konvention samt Protokollen akzeptieren. Die Türkei als Alt-Mitglied des Europarats kann nicht dazu gezwungen werden, auch die Zusätze zu unterzeichnen. Für sie gilt das Verbot der Todesstrafe also nicht unmittelbar, obwohl es zum Standard des Europarats gehört. Eine Hinrichtung könnte sich die Türkei aber allenfalls nach Abschluss des Verfahrens in Straßburg erlauben. Denn der Prozess eines schon hingerichteten Klägers wäre natürlich eine Farce. So müsste Öcalans Beschwerde die Vollstreckung der Todesstrafe zumindest hinausschieben - und bei einem Erfolg eigentlich auch verhindern. Denn der Gerichtshof kann zwar keine nationalen Urteile aufheben. Aber er kann eine Verletzung der Konvention feststellen und dem Betroffenen eine "gerechte Entschädigung" zusprechen. Weil diese schärfsten Sanktionen des Gerichts im Fall eines Hingerichteten wertlos wären, geht es in diesem Prozess auch um die Bedeutung des Europarats und seines reformierten Gerichts.
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