Neue Zürcher Zeitung 26.11.1999 Atatürks umstrittenes Erbe Unvereinbare Meinungen über die Zukunft der Türkei In den 76 Jahren seit der Ausrufung der Türkischen Republik durch Kemal Atatürk hat das Land einen rasanten Modernisierungsprozess durchlaufen. Trotz beachtlichen technologischen Fortschritten schwelt ein Konflikt zwischen Anhängern eines kemalistischen Zentralstaats, religiösen Kräften, Reformern und ethnischen Minoritäten. Wok. Ankara, Ende Oktober Der Himmel über Ankara ist verhangen, Nieselregen fällt, und die Polizisten frieren. Sie stehen vor der Eingangspforte zum Anit Kabir, dem kolossalen Mausoleum des türkischen Gründervaters Atatürk im Zentrum Ankaras, und bilden da einen Sicherheitskordon. An zwei Stellen haben sie ihre Reihen gelockert, um den Hunderten von Personen, die vor dem Portal warten, Einlass zu gewähren. Nach Geschlechtern getrennt, drängen sich die Wartenden einzeln durch die beiden Schleusen, wo sich alle einer minuziösen Körperkontrolle unterziehen müssen. Ausländern und unangemeldeten Medienleuten wird der Zugang barsch verwehrt. Unbehelligt von den Polizisten drängen sich uniformierte Armeeoffiziere durch den Kordon. In wenigen Minuten beginnt am Grabe Atatürks die offizielle Zeremonie zur Feier des 76. Gründungstags der Türkischen Republik. Die Wartenden lassen die Kontrollen ohne zu murren über sich ergehen. Strengste Sicherheitsvorkehrungen sind an diesem denkwürdigen Anlass geboten. Mächtige Feinde im In- und Ausland, so eine in der Türkei weitverbreitete Meinung, warten nur darauf, Atatürks Erbe zu besudeln. Weitverbreitetes Misstrauen Nie wieder, so sagt ein uns bekannter, weit gereister und aufgeklärt denkender Staatsbeamter in Ankara am Steuer seines Fiats, nie wieder würde er einen italienischen Wagen kaufen. Nicht mit Qualität begründet er seinen Boykott, sondern mit Politik. Die Ereignisse im vergangenen Winter, als der Führer der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, auf seiner Odyssee durch Europa sich in Italien während Wochen unbehelligt aufhalten konnte, haben unseren Bekannten, wie viele andere Türken auch, in einer tief sitzenden Angst bestätigt. Er ist auch heute noch davon überzeugt, dass Italien und die meisten andern Industriestaaten Europas nur darauf aus sind, der Türkei Schaden zuzufügen, um den aufstrebenden Konkurrenten am Bosporus zu schwächen. Warum sonst, so fragt er, erhielten Öcalans Anhänger denn in Europa Asyl, warum könnten sie ungestraft Demonstrationen abhalten? Es handle sich bei diesen Leuten doch nachweislich um Terroristen, die in jedem Rechtsstaat wegen ihrer Untaten verurteilt würden. In Europa werde, so halten wir entgegen, die PKK nicht primär als Terrorgruppe, sondern als politische Bewegung mit berechtigten Ansprüchen wahrgenommen. Und in der Schweiz sei der Umgang mit ethnischen Minderheiten eben anders. Wie naiv wir doch seien, empört sich unser Freund. Dass die Kurden und andere Minderheiten in der Türkei ein Recht auf ihre Muttersprache hätten, lässt er gelten. Ebenso unterstützt er den Ruf nach verstärkter regionaler Autonomie in allen Landesteilen. Doch man solle sich keine Illusionen machen. Hinter den Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte und einer verstärkten Demokratie verbärgen sich in der Türkei Kräfte, die letztlich alle nach der absoluten Macht im Staate strebten. Als Beispiel nennt der mit den Verhältnissen an den Universitäten gut vertraute Bekannte den Ausbildungssektor. Laut seiner Einschätzung ist die Mehrheit der Uni-Rektorate im ganzen Land heute mit Personen besetzt, die den Islamisten nahestehen. Diese Männer trügen keine Bärte und gäben sich nach aussen hin aufgeklärt, berichtet er. Doch ihre Weltanschauung sei zutiefst reaktionär und den laizistischen Ideen des Kemalismus diametral entgegengesetzt. Ihre Positionen verdankten sie oft dem Einfluss mächtiger religiöser Bruderschaften. Es sei daher die Aufgabe des Staates, gegen diese Art der Unterwanderung energisch vorzugehen. Eine Warnung des Generalstaatsanwalts Diese Ansicht deckt sich mit der Meinung, die der türkische Generalstaatsanwalt, Vural Savas, unlängst öffentlich vertreten hat. An einer Pressekonferenz, an der er angeblich als Privatperson auftrat, forderte Savas die Nation und alle Staatsorgane dazu auf, die Republik gegen jegliche Formen von Terrorismus zu schützen. Den islamistischen Politikern warf er vor, unter dem Deckmantel rühriger Demokraten einen Gottesstaat mit islamischer Rechtsprechung errichten zu wollen. Savas, der in der Vergangenheit rigoros gegen die legale Kurdenpartei Hadep und die mittlerweile verbotene islamistische Refah-Partei vorgegangen war, forderte die Einführung von Pressezensur, die Überwachung verdächtiger Telefonanschlüsse und Briefsendungen. Für politische Häftlinge schlug er die Internierung in Armeegefängnissen vor. Savas' Äusserungen lösten in den türkischen Zeitungen eine rege Debatte aus. Einigkeit bestand einzig darin, dass der Generalstaatsanwalt keineswegs als Privatperson aufgetreten war, sondern die Haltung der Armeespitze vertreten hatte. Die vorgeschlagenen Massnahmen kämen faktisch der Ausrufung des Notstands gleich, schrieb ein liberaler Kommentator. Dies aber würde in Europa schlecht aufgenommen. Die für den Dezember am EU-Gipfel in Helsinki erhoffte Aufnahme in den Kreis der Kandidatenländer käme unter solchen Voraussetzungen ganz sicher nicht zustande. Drängt sich der Schluss auf, dass die Armee eine EU-Mitgliedschaft gar nicht will? Diese Folgerung wäre falsch, behauptet der an der Bosporus-Universität in Istanbul lehrende Politologe Kemal Kirisci. In den massgebenden Kreisen der Armee werde eine Integration der Türkei in der EU unterstützt. Für die Militärs wäre eine türkische Vollmitgliedschaft der endgültige Beweis dafür, dass Atatürks Modernisierungsprogramm erfolgreich umgesetzt worden sei, der Kemalismus also den Weg nach Europa geebnet habe. Kirisci wagt aus diesem Grund die Prophezeiung, die Armee werde nach einem allfälligen EU-Beitritt ihre Drahtzieherrolle in der Politik aufgeben. Die Generäle sähen, so herrscht die Meinung, sehr den Sinn einer Gewaltentrennung. Doch in Armeekreisen herrsche ein tiefes Misstrauen den türkischen Politikern gegenüber, was angesichts des chronisch von Korruptionsskandalen und persönlichen Rivalitäten erschütterten engen politischen Milieus in Ankara nicht erstaunt. In der türkischen Hauptstadt hat sich eine Classe politique etabliert, die, so macht es oft den Anschein, vor allem mit sich selbst beschäftigt ist und seit Jahrzehnten von denselben Protagonisten geprägt wird. Neue Ideen und Anstösse entstehen in einem solchen Umfeld keine. Ein radikaler Kurswechsel der PKK Aus diesem Grund sei das Verhältnis zwischen Bürger und Staat gründlich gestört, sagt Kirisci. Drängende Probleme, wie etwa der Umgang der Regierung mit der kurdischen Minderheit, seien vor diesem Hintergrund nicht lösbar. Es führe daher auch nicht weiter, wenn in akademischen oder andern Zirkeln über föderalistische Modelle oder eine beschränkte Autonomie für die Kurden diskutiert werde. Vorrang habe die Aussöhnung zwischen Bevölkerung und Regierung. In diesem Zusammenhang misst der Politologe den Äusserungen des zum Tode verurteilten PKK-Führers, Öcalan, grosse Bedeutung bei. Öcalans Kurdische Arbeiterpartei habe, nach Jahren des bewaffneten Kampfs, einen radikalen Kurswechsel vollzogen und beschränke sich neuerdings auf die Forderung nach verstärkter Demokratisierung. Es sei zu einfach, diese Kehrtwende nur damit zu erklären, dass Öcalan alle Mittel recht seien, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Wenn Öcalans Anhänger in der Türkei - dazu sind gemeinhin die im Südosten zahlreichen Wähler der prokurdischen Hadep-Partei zu rechnen - sich an die neuen Direktiven hielten, bestünden gute Voraussetzungen für einen Reformprozess. Ein kurdischer Akademiker, der an der Universität von Ankara unterrichtet, hält von solchem Optimismus wenig. «Der Kampf der PKK war der 29. Aufstand gegen eine Zentralgewalt in der kurdischen Geschichte», sagt er. «Es wird einen 30. Aufstand geben, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.» Wenn sich auf politischer Ebene die Gemüter beruhigten, bedeute dies noch gar nichts. Die Armee misstraue den Schalmeienklängen Öcalans und habe bisher kein Konzept gefunden, um auf das Friedensangebot der Kurden zu reagieren. Aus militärischer Sicht kann der Kurde das Verhalten der Militärs nachvollziehen. Zahlreiche PKK-Kämpfer seien während der letzten Wochen untergetaucht und lebten nun unerkannt irgendwo im Land. Es brauche nur einen Funken, um den Konflikt wieder zu entzünden. Ein Anlass dazu könne sich jederzeit ergeben. Eine der oft vergessenen Folgen des 15 Jahre dauernden Kampfs der PKK sei, dass die gesellschaftlichen Gräben zwischen Kurden und Türken sich nun durch das ganze Land zögen. Es handle sich dabei nicht um eine offene Diskriminierung aller Bürger kurdischer Abstammung, wie in Europa gelegentlich vermutet. Die Mechanismen der Ausgrenzung seien subtil. Doch von einer Chancengleichheit aller Bürger, wie sie Atatürk gefordert hatte, sei die Türkei noch weit entfernt. Neue Kemalisten Der Bekannte, der niemals wieder einen Fiat kaufen wird, pflichtet in diesem Punkt bei. Seine diesbezüglichen Erfahrungen hat er allerdings nicht im Umgang mit Kurden gemacht. Als Verantwortlicher für die Zulassung von Studenten an die Universität weiss er von massiven Druckversuchen zu berichten. Des öftern sei er schon von einflussreichen Politikern dazu aufgefordert worden, deren Nichten oder Neffen im Aufnahmeverfahren zu begünstigen. Ihm ist bewusst, dass Druckversuche dieser Art im ganzen Land in Amtsstuben, in der Wirtschaft und in der Politik gang und gäbe sind. Doch bisher habe er sämtliche solcher Anliegen abgeschmettert, was für ihn teilweise sehr unangenehme Folgen gezeitigt habe. Die Zeiten osmanischer Günstlingswirtschaft seien vorbei, sagt der Beamte, doch leider hätten sich gewisse Verhaltensmuster in den bald 70 Jahren des kemalistischen Reformkurses nicht grundlegend geändert. Das Land benötige neue Kräfte. Als Beispiel erwähnt er die private, derzeit äusserst populäre Hilfsorganisation Akut, die nach dem grossen Erdbeben bei Izmit in fast völliger Abwesenheit staatlicher Hilfe Grossartiges geleistet hat. Ihm sind einige der Gründer der Organisation persönlich bekannt. Sie verkörpern für ihn eine neue Form des Kemalismus. An der Grabstätte des Staatsgründers ist die offizielle Gedenkzeremonie inzwischen abgeschlossen. Vor dem Mausoleum hat sich eine lange Reihe gebildet. Die Gesichter der Wartenden verraten keine Emotionen. Ist der jährlich wiederkehrende Gedenktag zur Gründung der Republik zum leeren Ritual verkommen? Sind die Kemalisten, wie es ein bekannter türkischer Kommentator einmal formuliert hatte, nichts mehr als ein Haufen nostalgischer Nekrophiler? Auffallend sind die vielen jüngeren Besucher, die darauf warten, am Grab Blumen niederzulegen. Sind sie es, die Atatürks Erbe nicht nur wahren, sondern auch weiterentwickeln werden?
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