Neue Zürcher Zeitung 26.11.1999 Bestätigung des Todesurteils gegen Öcalan Warten auf Urteil des Strassburger Menschenrechtsgerichtshofs Das oberste Berufungsgericht der Türkei hat am Donnerstag das Todesurteil gegen den Führer der Kurdischen Arbeiterpartei, Abdullah Öcalan, bestätigt. Das Parlament muss nun über die Ausführung der Strafe entscheiden. Öcalans Anwälte wollen das Verfahren an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nach Strassburg weiterziehen. paz. Istanbul, 25. November Das oberste Berufungsgericht der Türkei hat am Donnerstag das Todesurteil gegen den Führer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, bestätigt. Die Richter folgten nicht der Argumentation der Verteidigung, die eine Wiederaufnahme des Verfahrens verlangt hatte. Die Anwälte hatten argumentiert, ihr Kontakt mit dem Mandanten sei eingeschränkt gewesen. Der Kurdenführer sei während des Prozesses in einem Glaskäfig eingeschlossen gewesen. Als illegal bezeichneten die Verteidiger weiter die Verschleppung Öcalans durch türkische Sicherheitsleute aus Kenya. Trotzdem befand das fünfköpfige Richtergremium bei der formellen Prüfung einstimmig, am erstinstanzlichen Urteil sei aus rechtlicher Sicht nicht zu rütteln. Das Parlament entscheidet über Exekution Nach türkischem Recht muss die Nationalversammlung nun ein Gesetz verabschieden, damit das Urteil ausgeführt werden kann. Wie bei anderen Gesetzesvorlagen hat Präsident Demirel die Möglichkeit, den legislativen Akt einmal ans Parlament zurückzuweisen. Seit Mitte der achtziger Jahre sind in der Türkei zwar Dutzende von Todesurteilen verhängt worden, doch fand keine Exekution mehr statt. Insgesamt 47 Fälle liegen bei der zuständigen Parlamentskommission, wurden dem Plenum bisher aber nicht zur Abstimmung vorgelegt. Auf diese einfache Art kann der Fall Öcalan wohl kaum erledigt werden, denn dafür ist er viel zu brisant. Die Anwälte des PKK-Führers, aber auch jene Politiker, die sich des politischen Schadens einer Exekution bewusst sind, setzen ihre Hoffnungen nun auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Da die Türkei die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) vor Jahrzehnten ratifiziert hat, steht Öcalan der Weg einer Individualklage offen. Strassburg kann nicht nur internationale Rechtsstandards und die EMRK in Betracht ziehen, sondern auch Verfahrensmängel, die das nationale Recht der Türkei betreffen, aufzeigen. Zusätzlich könnten die unklaren Umstände von Öcalans Ergreifung in Kenya als Entführung beurteilt werden. Der Entscheid aus Strassburg ist für das Europaratsmitglied Türkei bindend. Zwar hat Ankara vor Jahresfrist eine Verurteilung durch den Menschenrechtsgerichtshof ignoriert, doch scheint eine Wiederholung angesichts der verbesserten Beziehungen mit der Europäischen Union diesmal weniger wahrscheinlich. Im türkischen Parlament dürfte gegenwärtig eine Mehrheit der Abgeordneten auf einem Vollzug der Strafe bestehen. Der Druck der Strasse ist beträchtlich, auch wenn am Donnerstag nur wenige Demonstranten zum Parlament marschierten und dieses zu schnellem Handeln aufforderten. Wenn sich das Verfahren nun von der juristischen auf die politische Bühne verlagert, wird die Regierungskoalition auf eine harte Probe gestellt werden. Premierminister Ecevit hat vor kurzem erklärt, dass erst nach einem Entscheid in Strassburg weitere Schritte unternommen würden. Ecevit, der als Gegner der Todesstrafe bekannt ist, scheint darauf zu setzen, dass mit der Zeit die Wogen der Emotionen etwas weniger hoch gehen und vielleicht gar die Todesstrafe abgeschafft wird. Seine Koalitionspartnerin, die rechtsradikale Nationale Bewegung (MHP), setzt sich aber offen für die Hinrichtung Öcalans ein. Europäischer Aspekt Der Prozess steht auch im Zusammenhang mit der Frage, ob Ankara Anfang Dezember am EU- Gipfel in Helsinki den seit langem ersehnten Status eines Beitrittskandidaten erhält. Nach hiesigen Presseberichten hatte der deutsche Botschafter in der Türkei, Hans-Joachim Vergau, am Dienstag gesagt, die Türkei könne ihre diesbezüglichen Hoffnungen vergessen, falls Öcalan gehängt werde. Äusserungen dieser Art werden hier mehrheitlich als Einmischung in innere Angelegenheiten empfunden. Sich europäischem Druck zu beugen und die Todesstrafe nicht zu vollstrecken würde die Unabhängigkeit der Türkischen Republik gefährden, sagte zum Beispiel Sefkat Cetin, der stellvertretende Vorsitzende der MHP. Wer immer diesen Kurs einschlage, werde sich in der Türkei nicht an der Macht halten können. Während Angehörige gefallener Soldaten den Entscheid des Berufungsgerichts mit Jubel begrüssten, meldeten Agenturen eine gedrückte Stimmung in den Kurdengebieten. Die von Öcalan eingeleiteten Schritte zur Beendigung des 15jährigen Kampfes, vor allem der Aufruf zum Rückzug der PKK aus der Türkei, haben im Südosten Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage geweckt. Der Staat hat bisher jedoch in keiner Weise darauf reagiert. Im Gespräch mit kurdischen Bürgern wird klar, dass die Exekution Öcalans als schwerer Schlag angesehen würde und zu einem erneuten Aufflammen der Kämpfe führen dürfte. Viele setzten ihre Hoffnung darauf, dass die Europäer im Gegenzug zur Gewährung des Status eines EU-Beitrittskandidaten von Ankara ein Aufweichen der harten Position in der Kurdenfrage verlangen. Mahnung der EU-Kommission Brüssel, 25. Nov. (dpa) Ein Sprecher der EU- Kommission hat am Donnerstag in Brüssel erklärt, die Europäische Union stelle sich auf den Standpunkt, dass das Todesurteil gegen Öcalan nicht vollstreckt werde. Für den für die Erweiterung der Union zuständigen EU-Kommissar Verheugen sei die Bestätigung des Todesurteils durch das oberste Berufungsgericht eine Enttäuschung. Die EU erwarte, dass die Menschenrechtskonvention von der Türkei akzeptiert werde. Friedliche Kundgebungen in Deutschland Hamburg, 25. Nov. (Reuters) Mehrere hundert Personen haben am Donnerstag in deutschen Städten gegen die Bestätigung des Todesurteils gegen den PKK-Führer Öcalan demonstriert. Am Mittag protestierten nach Polizeiangaben rund 300 Personen friedlich vor dem Kölner Dom gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts in Ankara. In Hamburg versammelten sich am Mittag rund 100 Personen am Hauptbahnhof. Auch in Essen und Göttingen kam es zu friedlichen Protesten gegen das Urteil.
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