Der Bund 26.11.1999

KOMMENTAR

Nach dem Urteil die Politik

DANIEL GOLDSTEIN

Den juristischen Ausweg aus dem Öcalan-Dilemma hat die Türkei nicht gewählt. Das höchste der - bisher nicht durch Unabhängigkeit von Armee und Politik aufgefallenen - Gerichte hat das Todesurteil erwartungsgemäss bestätigt. Damit liegt das Schicksal des Kurdenführers direkt in den Händen der Politiker. Präsident Demirel und Premier Ecevit wollen den Wahrspruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abwarten. Die Strassburger Richter werden das Urteil zweifellos als Verstoss gegen die Charta der Menschenrechte brandmarken. Die Türkei konnte noch unter dem Vorbehalt der Todesstrafe beitreten, während von den osteuropäischen Neumitgliedern des Europarats die Abschaffung verlangt wurde. Hinter dem neu entdeckten türkischen Respekt für den Europarat steckt das Bestreben, der EU beizutreten. Diese schickt sich an, die Türkei als Kandidatin anzuerkennen, will aber mit Verhandlungen noch warten. Wird Öcalan hingerichtet, so bedeutet das einen schweren Rückschlag für die Annäherung. Das käme wohl der Nationalistenpartei MHP, die mit Ecevits Sozialdemokraten in unheiliger Allianz regiert, gerade recht: Sie will die Todesstrafe ohne Rücksicht auf Europa durchsetzen. Für die MHP zählt im Kampf gegen die kurdischen Separatisten nur die Härte. Diesen Standpunkt teilt bis jetzt die Armee, die stark in die Politik eingreift. Sie hat sich durch den einseitig ausgerufenen Waffenstillstand der PKK nicht von weiteren «Säuberungsaktionen» im Südosten abhalten lassen. Als Gesprächspartnerin wird die PKK von allen politischen Kräften abgelehnt - auch von jenen, die wie Demirel Kontakt mit der gemässigten Kurdenpartei Hadep suchen. Gegen diese läuft indessen ein Verbotsverfahren vor der «unabhängigen» Justiz. Doch nur wenn Ankara mit repräsentativen Kurden über Minderheitsrechte verhandelt und aus Öcalan keinen Märtyrer macht, kann es auch auf Verhandlungen mit der EU hoffen.