Salzburger Nachrichten, 26.11.1999 DER STANDPUNKT Ankara verpasst eine große Chance HELMUT L. MÜLLER Der Fall Öcalan ist noch lange nicht zu Ende. Von einer Lösung der Kurdenfrage ist die Türkei noch immer weit entfernt. So stellt sich der Eindruck ein, dass die Türkische Republik dabei ist, eine "historische Chance" zu verpassen. Die Chance nämlich, endlich inneren Frieden zu schließen und damit für das Land das Tor zur Zukunft aufzustoßen. Der "Staatsfeind Nr. 1", PKK-Führer Öcalan, ist abgeurteilt. Militärisch ist die Kurdische Arbeiterpartei mittlerweile besiegt. Doch alle Friedensappelle stoßen beim politischen und militärischen Establishment der Türkei bisher auf taube Ohren. Die Führung des Landes zeigt gegenüber den Kurden noch kein Entgegenkommen. Kein Ton ist zu hören von einer Autonomie-Regelung für das in der Türkei 12 Millionen Menschen zählende kurdische Volk. Statt dessen heißt die offizielle Devise noch immer: "Es gibt kein Kurdenproblem, es gibt nur ein Terroristenproblem." Der Verdacht liegt nahe, dass es der Türkei nicht nur darum geht, "militante Separatisten" auszuschalten, sondern in Wahrheit darum, die Kurden politisch kleinzukriegen. In allen Fasern der kemalistischen Elite des Landes steckt offenbar der Geist von Republiksgründer Atatürk, dass die nationale Einheit der Türkei über allem stehe. Dieses ideologische Dogma lässt in den Augen der bornierten, engstirnigen Nationalisten in der Türkei kulturellen Pluralismus, die Achtung der Grundrechte für die Kurden, nicht zu. So fällt der Europäischen Union die Verantwortung zu, beim Tauziehen um einen EU-Kandidatenstatus für die Türkei das Ende der Unterdrückung der Kurden einzufordern. An diesen Strohhalm klammern sich jetzt die enttäuschten Kurden. Sollten die Entrechteten erneut leer ausgehen, werden Öcalans Nachfolger sicherlich den bewaffneten Kampf wieder aufnehmen.
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